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Der kaukasische Kreidekreis

Gastbeitrag: Zerrissen, zwischen den Welten, verstoßen und noch nicht angekommen - Jameel schreibt über die schwierige Beziehung zu seinen Müttern Syrien und Deutschland.

Jameel Juratly
© privat

Jameel Juratly

Autor: Jameel Juratly

Jameel Juratly ist 53 Jahre alt und stammt aus Homs in Syrien. Im Oktober 2014 musste er mit seiner Frau und seinen drei Kindern nach Deutschland fliehen. Mittlerweile ist er hier angekommen und arbeitet als Hauptamtlicher Sprachmittler bei der Stadt Oldenburg im Amt für Zuwanderung und Integration. Doch seine Erinnerungen an sein Leben in Syrien und die schönen Tage vor dem Konflikt bleiben und gleichzeitig das Wissen, dass diese Heimat nicht mehr existiert mit der Sorge um Familie, Freunde und Bekannte. Jameel liest und schreibt viel, auch über die Schwierigkeiten, ein neues Leben in einem fremden Land zu beginnen. Dabei erzählt er diesmal von der Herausforderung eine Heimat in zwei Ländern zu finden, wenn doch metaphorisch Deutschland und Syrien seine Mütter sind.

Ich stehe in der Mitte des Kreidekreises.

Auf der einen Seite steht Syrien, meine leibliche Mutter. Sie hat mir bereits vor dem Krieg, als ich noch ein Kind war, ihr ambivalentes Verhalten gezeigt. Sie hat mich mit viel Liebe und Wärme in ihren Gassen, auf ihren Märkten, in ihren Cafés aufgezogen, aber ich musste oft auf der Hut sein - konnte ihr nicht immer trauen.

Sie war eine harte syrische Mutter, die so manches Mal zur Quelle der Angst für mich wurde, besonders dann, als der Krieg begann.

Durch den Krieg wurde die syrische Mutter zur direkten Bedrohung. Syrien, mein Heimatland, meine Mutter, wurde auf einmal zu einer unüberwindbaren Gefahr.

Und ich fühlte mich in meinem eigenen Zuhause nicht mehr sicher. Aber meine Kindheit, die Bindung an meine Heimat, meine Eltern und die nahestehenden Personen in den frühen Jahren meines Lebens haben mich für mein ganzes Leben geprägt und geformt.
Ich bin meiner syrischen Mutter dankbar für viele schöne Erinnerungen und Momente des Glücks. Leider ist ihr ambivalentes Verhalten immer mehr ins Negative gekippt. Das schmerzt mich sehr.

Auf der anderen Seite steht nun die andere, die deutsche Mutter. Zu ihr habe ich ebenfalls eine ambivalente Bindung.

Wie soll ich mit dieser neuen deutschen Mutter umgehen? In manchen Situationen kümmert sie sich liebevoll um mich, das Kind. In anderen Situationen ignoriert sie meine Bedürfnisse. Was zum Resultat hat, dass ich nicht weiß, was sie von mir erwartet.

Ich muss und möchte lernen, ihre Sprache zu sprechen, will mich gut mir ihr verstehen. Trotzdem muss ich auch immer wieder auf der Hut sein und die Mimik und Körpersprache der Mutter lesen, weil unsere Kommunikation noch nicht reibungslos verläuft, unser Verhältnis noch nicht auf tiefem Vertrauen beruht. Trügt mich mein Gefühl?

Kann ich meiner Wahrnehmung trauen?

Kann ich überhaupt einer Mutter vertrauen? Oder vertraue ich keiner? Ich habe ein starkes angeborenes Bedürfnis nach Sicherheit und Liebe. Ich bin verunsichert.

Bin ich liebenswert, oder verdiene ich es abgewiesen, ausgewiesen zu werden? Wo gehöre ich hin?

Es gibt so unglaublich vieles auf dieser Welt zu entdecken, aber gibt es überhaupt irgendwo einen sicheren Ort für mich? Diese Gefühle lassen mich in der Mitte des Kreises niederknien. Ich werde ein Stein, der bodenlos ins Wasser fällt. Meine Gedanken bilden auf der Wasseroberfläche Kreise, die von innen nach außen immer größer werden. Meine Erlebnisse ziehen immer weitere Kreise, die sich mehr und mehr ausbreiten. Sie kollidieren mit der Gemeinschaft, die mich umgibt, in der ich interagiere und lebe.

Viele konfuse und oft schmerzhafte Fragen gehen durch meinen Kopf. Manchmal wendet sich das Kind – ich – verzweifelt zur Quelle und sucht dort nach Sicherheit und Geborgenheit, die ich aber nur schwer finde.

Manchmal fühlte ich mich wie ein verlorengegangenes Kind. Es könnte der jüngere Teil von mir sein, der den Schmerz der unsicheren Bindung zu seiner Mutter noch nicht verarbeitet hat – der immer noch nach der Liebe seiner Mutter sucht, von der er nicht genug bekommen hat.

Der den Wunsch hat, die richtige Mutter zu finden, um sich sicher und geborgen zu fühlen.

Wenn mich meine syrische Mutter genug geliebt hätte, wäre ich kein Flüchtling geworden. Wenn ich mich von der neuen deutschen Mutter genug geliebt fühlen würde, bräuchte ich mich nicht nach der anderen zu sehnen.

Das Kind, das sich im Kreis befindet, fast gelähmt von Zweifeln und Fragen, will seine syrische Mutter. Aber der Erwachsene, der dort ist, strebt zu seiner deutschen Mutter.

In mir Selbst trage ich mein inneres Kind, und ich weiß, dass ich ihm mit ganz viel Liebe, Geduld und Mitgefühl begegnen sollte – auch dann, wenn es laut um sich schlägt. Wenn es sich gesehen und in Sicherheit fühlt, beruhigt es sich meist schnell wieder.

Vielleicht kann der erwachsene Jameel, der Teil, der voller Liebe und Hoffnung ist, dem Kind die Liebe, Zuneigung und Sicherheit geben, die es so sehr braucht.

Dieses Kind halten und wärmen und lieben, damit es sich immer mehr in seinem Inneren zu Hause fühlt – egal welchen Boden es unter den Füßen hat. Und dann, dann können beide zusammen, der kleine und der große Jameel, vielleicht sogar die Kraft haben, der syrischen Mutter das große Leid, was sie ihm zugefügt hat, zu verzeihen. Und beide zusammen können dann darauf vertrauen, dass jede Mutter immer das Beste für ihr Kind gibt. Nämlich das, was sie zu eben diesem Zeitpunkt und diesen Bedingungen geben kann.

Vielleicht werde ich mich dann auch in Deutschland mehr zu Hause fühlen. Also an Deutschland habe ich mein Herz ja – wenn ich ehrlich bin – schon verloren...

 

Mehr Informationen zur Flucht aus Syrien

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