Im Gespräch mit Marina Weisband
Seit dem Beginn der Invasion am 24. Februar verschlechtert sich die Situation in der Ukraine weiter rapide. 4,3 Millionen Menschen sind bereits aus der Ukraine geflohen, der Großteil von ihnen sind Frauen und Kinder, 7,1 Millionen Menschen sind innerhalb des Landes auf der Flucht und rund 13 Millionen Menschen halten sich in der Ukraine in Regionen auf, die schwer zu erreichen und von jeglicher Hilfe abgeschnitten sind. Die Zahl der Menschen auf der Flucht steigt täglich, sodass die Ukraine Europas größte Flüchtlingskrise dieses Jahrhunderts werden könnte.
Marina Weisband wurde 1987 in der Ukraine geboren und hat dort auch, bevor sie nach Deutschland zog, die ersten sechs Jahre ihrer Kindheit verbracht. Heute ist sie Diplompsychologin, Netzaktivistin, Publizistin und Politikerin bei den Grünen. Seit über acht Jahren beschäftigt sie sich bereits mit dem Konflikt zwischen Russland und der Ukraine. Ein Teil ihrer Familie ist aktuell in der Ukraine, wie es ihnen geht, was ihre Einschätzung des Krieges ist und was ihrer Meinung jetzt passieren muss, erzählt sie uns im Interview.
In Interviews haben Sie erzählt, dass Sie noch Bekannte und Familie in der Ukraine haben. Haben Sie momentan die Möglichkeit mit Ihnen in Kontakt zu bleiben? Wie nehmen diese die Situation vor Ort wahr?
Meine unmittelbare Familie wohnt in Kiew. Wir telefonieren oft oder rufen uns über Video an. Das Internet ist dankenswert stabil. Die unmittelbare Gefahr ist von der Hauptstadt nun abgewandt. Doch die Lage bleibt weiter bedrohlich wir fürchten um die Verwandten und Bekannten im Süd- und Ostteil des Landes. Alle Menschen dort wollen einfach nur Frieden.
Was sind die einschlägigsten Auswirkungen des Konflikts auf die Menschen in der Ukraine derzeit?
Unmittelbar sind es natürlich die direkten Angriffe, die ständigen Luftalarme. Die Entführungen, Morde, Vergewaltigungen und das Marodieren. Auch ökonomisch ist das Leben schwerer geworden. Viele Menschen können ihrem Beruf derzeit nicht nachgehen. 30% der Wirtschaft liegen lahm. Dazu ist die Versorgungssituation sehr schlecht - selbst in der Hauptstadt. Bis vor einer Woche hatte man selbst in Kiew noch große Probleme, an Brot zu kommen. Viele Lebensmittel fehlen. Das ist Kiew. In Städten wie Mariupol fehlt es seit Wochen an Wasser, Gas, Nahrung, Medizin. Die Menschen tranken das Wasser aus den Heizungsrohren. Kinder verdursten. Zuletzt bleibt natürlich das Trauma. Die für immer zerstörten Leben.
Sie beschäftigen sich seit über 8 Jahren mit diesem Konflikt. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein, wie wird sich dieser Krieg weiterentwickeln? Wie schätzen Sie die Friedensgespräche ein?
Ich glaube nicht an Friedensgespräche, solange Russland sich nicht zu einem Rückzug gezwungen sieht. Leider tut Deutschland wenig, um das zu befördern. Der Westen liefert Waffen in die Ukraine und verengt den russischen Handlungsspielraum durch ökonomische Sanktionen. Doch bei allen diesen Unternehmungen steht die deutsche Regierung auf der Bremse. Wenn das so weiter geht, wird der Krieg noch lange dauern. Putin will die Ukraine nur zerstören. Die Zeit spielt für ihn. Und wenn er die Ukraine hat, wird er weiter nach Westen gehen.
In Ihrer Rede bei der „G7 Disinformation Conference 2022“ sprechen Sie über die Verbreitung von Desinformation in Russland durch die russische Regierung. Gibt es Möglichkeiten dagegen vorzugehen?
Russland kann seine Desinformation seit 8 Jahren praktisch ungehindert verbreiten. Die Anwesenheit von professionellen Trollfabriken, die den westlichen Diskurs über Social Media beeinflussen, wurde zwar zur Kenntnis genommen, aber weiter wurde dagegen nichts getan. Mehr noch, die russische Propaganda wurde völlig ignoriert, sodass jetzt alle Politiker überrascht sind, wie das alles passieren konnte. Als hätte Putin es nicht jahrelang im Fernsehen angekündigt.
Wir müssen besser auf faschistische Propaganda achten, egal aus welchem Land, und wir müssen ihr mit frühzeitiger, klarer, zielgruppenorientierter Kommunikation der Wahrheit zuvorkommen. Nicht reagieren. Zuvorkommen.
Generell gibt es Online viel Falschinformation. Wie informieren Sie sich? Wie können sich Andere am besten informieren?
Ich habe mehrere vertrauenswürdige Quellen, auf die ich setze. Gerade im Krieg schätze ich die Arbeit von Journalist*innen, die Dinge verifizieren. Zum Glück kann ich dabei nicht nur auf deutsche, sondern auch auf englisch-, ukrainisch- und russischsprachige Quellen zurückgreifen. Das gibt mir eine Übersicht. Eine gute Faustregel ist, für jede Behauptung, die man liest, eine zweite Quelle zu suchen. Immer den Artikel lesen, nicht nur die Überschrift weiterleiten. Und versuchen, zu verstehen, ob das wirklich realistisch ist, was da steht.
Westliche Länder versuchen vor allem durch Sanktionen Druck auf die russische Regierung auszuüben. Wie schätzen Sie die Sanktionen ein, haben diese tatsächliche Auswirkungen auf Putins Handeln?
Dass wir den Krieg nicht bezahlen würden mit unseren Euros, ist nicht wahr. Der Krieg wird aus dem russischen Staatshaushalt bezahlt und der speist sich zu einem Drittel aus dem Export von Energie. Wir fördern Putin mit Unsummen von Geld. Verantwortlich ist eine Politik, die uns sehenden Auges in diese Abhängigkeit gebracht hat, aber die jetzt auch die Anpassungsfähigkeit der eigenen Wirtschaft unterschätzt. Die Sanktionen jetzt sind vergleichsweise zahm, mit riesigen Lücken behaftet. Sie treffen vor allem die russische Mittelschicht - die Putin nicht stürzen kann und wird. Die Sanktionen müssen den Energiesektor treffen. Über Monate könnten sie für Putin den Krieg mit der Weiterregierung Russlands unvereinbar machen. Das ist das Ziel. Die deutsche Politik rechnet, was das kosten würde. Verschwiegen werden die Kosten des Nichthandelns. Wie entwickelt sich unsere Wirtschaft wohl bei ständigem Krieg in Europa?
Bekommen von dem Konflikt betroffene Menschen Solidaritätsbekundungen mit und was lösen diese aus?
Betroffene Menschen bekommen die Solidaritätsbekundungen und sie bedeuten viel. Meine Familie ist gerührt von den Menschen in Deutschland. Von der Hilfe für Flüchtlinge. Von den vielen ukrainischen Fahnen überall. Doch sie sagen: "Das ist alles nichts wert, wenn eure Regierung die EU davon abhält, uns zu helfen. Wenn sie Waffenlieferungen blockiert. Das ist schwer zu vergeben."
In unserem Podcast erzählt Marina Weisband von ihrer Ankunft in Deutschland und wie ihr eigener Fluchthintergrund ihr Leben und ihr politisches Engagement geprägt hat:
Wie können Menschen aus der Ukraine am besten von Einzelnen unterstützt werden?
Menschen, die hier sind, brauchen Unterkunft für mehrere Monate oder vielleicht sogar Jahre. Wer also bezahlbare leerstehende Wohnungen hat, kann damit enorm helfen. Am besten auch über private Plattformen, denn die Kommunen vernetzen bisher suboptimal. Da kommen dringende Gesuche und Angebote einfach nicht zusammen. Als ich hier in Deutschland ankam, war für mich sehr wichtig, dass Leute mit mir geduldig deutsch geübt haben. Sprache gibt Freiheit und Sicherheit. Gerade für ein Kind. Mich an jemanden um Hilfe wenden zu können, war wichtig.
Die Menschen in der Ukraine selbst brauchen vor allem Waffen und Geldspenden. Die Nationalbank der Ukraine hat ein mehrwährungsfähiges Spendenkonto eingerichtet. Man kann auch an große Institutionen spenden, am besten ohne Zweckbindung. Die haben den besten Überblick, was gebraucht wird.
Vor allem aber müssen wir Druck auf unsere Regierung machen. Dass es kein Weg ist, still und heimlich bald wieder zu den alten Handelsbeziehungen mit Russland zurückzukehren.
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