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Unterbringung von geflüchteten Menschen: Kommunale Realitäten

Während ihrer Untersuchung zur Situation von geflüchteten Menschen in kommunalen Unterbringungen beginnt der Krieg in der Ukraine: Im Interview berichten Prof. Dr. Rosenow-Williams, Dr. Alina Bergedick und Dr. Katharina Behmer-Prinz von neuen Herausforderungen und Chancen und geben Einblicke in die Praxis kommunaler Flüchtlingsarbeit.

Prof. Dr. Rosenow-Williams, Dr. Alina Bergedick und Dr. Katharina Behmer-Prinz haben seit 2016 die kommunale Unterbringung von geflüchteten Menschen wissenschaftlich erforscht.1 Sie beobachteten dabei, dass nach einer anfänglichen Phase des Krisenmanagements eine Phase der Professionalisierung von Strukturen und Standards2 eingetreten ist. Die anschließende Phase der Verstetigung von Prozessen wurde jedoch aufgrund des Angriffskriegs von Russland gegen die Ukraine von einer erneuten Phase des Krisenmanagements abgelöst.

Für den Blog der UNO-Flüchtlingshilfe spricht Prof. Dr. Kerstin Rosenow-Williams, Professorin für Soziale Nachhaltigkeit an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg, mit Dr. Katharina Behmer-Prinz, Leiterin Flüchtlingshilfe beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) Kreisverband Hanau e. V. sowie Mitarbeiterin am Institut für Friedenssicherungsrecht und humanitäres Völkerrecht (IFHV) an der Ruhr-Universität Bochum und mit Dr. Alina Bergedieck, stellvertretende Leiterin einer Notunterkunft für ukrainische Geflüchtete in Ahlen des Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) RV Münsterland e. V..

Prof. Kerstin Rosenow-Williams: Ende 2022 leben 3.078.650 Schutzsuchende in Deutschland.3 Seit Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 sind laut des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) bis zum 24. Februar 2023 insgesamt 1,06 Millionen Personen nach Deutschland eingereist. Ein Drittel von ihnen sind Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren und über 60 Prozent der eingereisten Personen sind weiblich.4 Wie geht es den nach Deutschland geflohenen Menschen vor Ort? Wie sind sie untergebracht und wie werden sie in den Kommunen betreut?

Dr. Alina Bergedieck: Die Hauptlast in der Versorgung von geflüchteten Menschen fällt in die Verantwortung der Kommunen. Aufgrund einer hohen Dringlichkeit in der Unterbringung von ankommenden geflüchteten Ukrainer*innen wurden in 2022 erneut viele kommunale Notunterkünfte in einem ad hoc Verfahren aufgebaut und installiert. Diese Notunterkünfte sind nicht selten Turnhallen, große Gebäude oder auch Zeltstädte.

Dort leben die Menschen sehr beengt ohne viel Privatsphäre.

Mittlerweile leben die geflüchteten Urkainer*innen schon teilweise über ein Jahr in Deutschland, so dass die meisten von ihnen entweder in privaten Wohnraum oder in kommunale Gemeinschaftsunterkünfte gezogen sind. In den Gemeinschaftsunterkünften haben Familienverbunde meist eigene abschließbare Wohneinheiten.

Dr. Katharina Behmer-Prinz: Für die neu ankommenden Geflüchteten ist die Orientierung im Alltag erstmal schwer. Um eine eigene Unterkunft beziehen zu können und sich selbst versorgen zu können, müssen sie viele Anträge bei Behörden stellen. Das ist bei mangelnden Ortskenntnissen, fehlender Erfahrung mit der öffentlichen Verwaltung in Deutschland, mangelnden oder lückenhaften Sprachkenntnissen und wenig Kontakten zur ansässigen Bevölkerung eine Herausforderung. Erschwert wird dieser Prozess, wenn gesundheitliche oder psychosoziale Problematiken bestehen oder durch belastende Erfahrungen auf der Flucht hervorgerufen werden, ebenso wie bei Menschen mit Behinderungen oder chronischen Krankheiten. Auch alleinreisende Frauen mit Kindern und alleinreisende Minderjährige haben es besonders schwer in Deutschland anzukommen und brauchen Unterstützung durch die Kommunen.

Da die Anzahl der Flüchtlinge, die in einer Kommune ankommen, nicht gut planbar ist, haben viele Kommunen zu wenig Kapazitäten, um alle Geflüchteten bedarfsgerecht zu versorgen. Viele Aufgaben werden daher an freie Träger, also Wohlfahrtsverbände und Hilfsorganisationen, manchmal auch an private Unternehmen abgegeben. Doch auch damit lässt sich der Bedarf an Unterstützung meist nicht abdecken.

Ohne die ehrenamtliche Unterstützung vieler engagierter Mitmenschen überall auf der Welt würde ein Zurechtkommen und ein Ankommen vor Ort nicht klappen.

Was ist die "Massenzustrom-Richtlinie"?

Die sogenannte "Massenzustrom"-Richtlinie (2001/55/EG) garantiert Vertriebenen einen vorübergehenden Schutz in der EU, jenseits des individuellen Asylverfahrens und jenseits des Dublin-Systems.

Die Richtlinie wurde als Konsequenz der Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien 2001 von der EU geschaffen, um bei einem Massenzustrom von Vertriebenen Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes in den Mitgliedsstaaten sowie Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen festzulegen. Dazu gehört zum Beispiel:

  • eine Arbeitserlaubnis für die Vertriebenen,
  • sowie Zugang zu Sozialhilfe, medizinischer Versorgung oder
  • Bildung für Minderjährige.

Zum Schutz der geflüchteten Menschen aus der Ukraine beschlossen die Mitgliedstaaten am 3. März 2022, diese Richtlinie erstmals zu aktivieren (s. Durchführungsbeschluss EU 2022/382 des Rates vom 4.3.2022, Art. 2). Bis dahin war sie noch nie genutzt worden. Für ukrainische Staatsangehörige gilt der Schutz für ein Jahr. Danach kann er je nach Situation halbjährig verlängert werden. In dieser Zeit können Schutzsuchende sich ohne Visum in den europäischen Mitgliedsstaaten bewegen.

 

Prof. Rosenow-Williams: Die Rahmenbedingungen für geflüchtete Ukrainer*innen in Deutschland unterscheiden sich signifikant von anderen Asylbewerber*innen. Wie nehmt ihr diese neuen Regelungen in Bezug auf die Ukraine-Krise in der Praxis wahr?

Dr. Bergedieck: Durch das einheitliche Aufnahmeverfahren für geflüchtete Menschen aus der Ukraine werden Behörden entlastet, die Integration in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft wird mutmaßlich gesteigert und die psychische Belastung durch das Asylverfahren könnte geringer ausfallen. Ukrainer*innen erfahren hierdurch mehr Selbstwirksamkeit und weniger “Liminalität”.5 Dieser „Schwellenzustand“ im Prozess des Ankommens wird ansonsten durch ein oft langes Asylverfahren ausgelöst und erschwert anderen Asylbewerber*innen die Integration in Deutschland. Darüber hinaus zeigt sich eine enorme gesellschaftliche Hilfsbereitschaft, die unter anderem bei der Bereitstellung von privatem Wohnraum für Ukrainer*innen sichtbar wird.

Dr. Behmer-Prinz: Das neue Verfahren hat im Main-Kinzig-Kreis (MKK) zu neuen Ideen und Pilotprojekten in der Versorgung von geflüchteten Menschen aus der Ukraine gesorgt. So hat eine Initiative der Stadt Hanau in Kooperation mit dem Main-Kinzig-Kreis (MKK), einer lokalen Veranstaltungsagentur und dem DRK-Kreisverband Hanau e.V. zu einem Beratungszentrum für geflüchtete Menschen aus der Ukraine direkt am Hauptbahnhof in Hanau geführt, wo mittlerweile auch das “Kommunale Center für Arbeit” direkt vor Ort Beratungen durchführt. Durch das breite Beratungsspektrum vor Ort mit Erstberatung zu Leistungsbezug, Aufenthaltstitel, Gesundheit und medizinischer Versorgung, Wohnraum, Spracherwerb und Integration sowie die ideale Anbindung an den ÖPNV, wird das Zentrum täglich von vielen geflüchteten Menschen aus dem ganzen Landkreis angesteuert.
  

 

Prof. Rosenow-Williams: Im Anschluss an Eure Forschung zur Unterbringungssituation in Kommunen seid Ihr nun beide selber in der Flüchtlingshilfe aktiv und betreut Projekte und Unterkünfte für geflüchtete Menschen auf kommunaler Ebene. Was könnt Ihr aus Eurer Forschungserfahrung in der Praxis wiederfinden?

Dr. Bergedieck: Der Vorgang ad hoc kommunale Notunterkünfte aufzubauen, impliziert auch, dass schnell Personal für die Betreuung der Bewohner*nnen gefunden und eingearbeitet werden muss. Häufig werden zunächst Sozialbetreuer*innen eingestellt, die meistens über keine bis wenig Erfahrung in der Flüchtlingshilfe verfügen. Deshalb habe ich für den ASB RV Münsterland e. V. eine Schulung entwickelt, die sich auf den Gewaltschutz in Flüchtlingsunterkünften fokussiert und angelehnt ist an die “Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Flüchtlingsunterkünften” .6

Diese Schulung soll die Mitarbeiter*innen sensibilisieren für den Gewaltschutz (Prävention und Handlungsablauf bei Gewalt), die Verfahren bei Verdacht und tatsächlicher Gewalt standardisieren, aber auch grundlegende Themen besprechen, wie z. B. welche Faktoren muss eine Unterkunft bereitstellen, um ein harmonisches Miteinander zu gewährleisten? Darüber hinaus werden Themen besprochen, wie “Nähe und Distanz”, Grenzen setzen und die Sensibilisierung für Diversity. Schulungen sind ein einfaches Instrument, Mitarbeiter*innen theoretisches Wissen zu vermitteln, um sie in ihrer praktischen Arbeit zu stärken und ihnen die Sicherheit zu geben, in einem für sie neuen Feld professionell zu agieren.

So wird nicht nur der Schutz der vulnerablen Gruppen gewährleistet, sondern auch der Schutz der Mitarbeiter*innen.

Dr. Behmer-Prinz: Im Main-Kinzig-Kreis sieht es ähnlich aus. Bei Kriegsausbruch wurden viele Mehrzweckhallen als Flüchtlingsunterkünfte eingesetzt. Auch wurden schnell viele Mitarbeiter*innen gebraucht. Aus Mangel an freistehenden Gebäuden werden die Mehrzweckhallen irgendwann durch Leichtbauhallen oder Unterkünfte ersetzt, die dem Hallenbetrieb sehr ähnlich sind. Mindeststandards, z. B. zum Gewaltschutz, werden nicht eingefordert, da es sprichwörtlich einzig darum geht, den Menschen ein Dach über dem Kopf zu bieten, die aus den Landeserstaufnahmeeinrichtungen kommen und vom Landkreis dann den Kommunen zugewiesen werden.

Im DRK-Kreisverband Hanau setzen wir daher in der Flüchtlingshilfe vor allem auf organisationsinterne Handlungsmaximen, die Rotkreuz-Grundsätze. Wir sind ein sehr buntes Team und profitieren von unserer Diversität insbesondere im Umgang mit interkulturellen Herausforderungen. Aber, wo verpflichtende Standards fehlen, ist das Handeln der und des Einzelnen von enormer Bedeutung. Das hat mir unsere Forschung sehr deutlich gezeigt. Für Selbstreflexion und den notwendigen Austausch, für den in der operativen Arbeit oft keine Zeit bleibt, haben wir daher einen monatlichen Team-Supervisionstermin etabliert, in dem das Team je nach Bedarf mit qualifizierter Anleitung über die Abgrenzung der eigenen Rolle, kollegiale Beratung, den Umgang mit z .T. sehr nahe gehenden Fluchtgeschichten, Interkulturalität aber auch den Frust über die Grenzen der Hilfsmöglichkeiten diskutieren kann.

Prof. Rosenow-Williams: Was wünscht Ihr Euch für die Zukunft?

Dr. Bergedieck: Es wäre sehr wünschenswert, wenn Migrationsbewegungen als Tatsachen angenommen werden, die Europa auch in den nächsten Jahren und Jahrzehnten begleiten, so dass von Seiten der Kommunen, aber auch der Länder, die Professionalisierung der Flüchtlingshilfe weiter unterstützt und ausgebaut wird.

Dr. Behmer-Prinz: Oft wird Migration und Flucht in internationalen Kontexten diskutiert, z. B. im Zusammenhang mit Krisen und Konflikten. Das ist richtig und wichtig, um die großen Zusammenhänge zu verstehen.

Gleichzeitig findet ein Großteil der Lebensrealität geflüchteter Menschen auf lokaler Ebene statt.

Hier entscheiden sich Integrationschancen und damit auch Chancen für den zukünftigen Zusammenhalt von Gesellschaften. Das braucht Unterstützung aus Forschung, Politik und von jeder und jedem Einzelnen.

Quellenhinweise

1 Behmer-Prinz, Katharina, Bergedick, Alina, Rosenow-Williams, Kerstin (2022): „Die Praxis der kommunalen Unterbringung von geflüchteten Menschen: Eine akteurszentrierte Analyse der Umsetzung von Schutzstandards zwischen 2015 und 2020“, in. Journal of International Law of Peace and Armed Conflict 5 (1–2), pp. 14 –35. Das Projekt wurde gefördert durch die Gerda Henkel Stiftung, https://biblioscout.net/content/article/10.35998/huv-2022-0002.pdf (abgerufen am 20.04.2023).

2 2016 hat das Bundesfamilienministerium gemeinsam mit UNICEF eine bundesweite Initiative zur Entwicklung von Mindeststandards zum Schutz von geflüchteten Menschen in Unterkünften initiiert, welche inzwischen in überarbeiteter Form vorliegen. BMFSFJ/UNICEF (2021): “Mindeststandards zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und Frauen in Flüchtlingsunterkünften”, www.unicef.de/_cae/resource/blob/243688/980ce25141cf45973065a45077e7af30/mindeststandards-zum-schutz-von-kindern-jugendlichen-und-frauen-in-fluechtlingsunterkuenften-2021-pdf-data.pdf (abgerufen am 20.04.2023).

3 Destatis 2023, Schutzsuchende nach Schutzstatus, Ersteinreisejahr und Herkunftsländern. URL:
www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Migration-Integration/Tabellen/schutzsuchende-ersteinreisejahr-schutzstatus.html (abgerufen am 20.04.2023).

4 BAMF (2023): Factsheet: Daten und Fakten zu Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine, Datum: 24.02.2023, Informationsblatt, Bereich Asyl und Flüchtlingsschutz. URL: www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/AsylFluechtlingsschutz/factsheet-ukraine.pdf (abgerufen am 28.04.2023).

5 Vgl. Turner, V. (1988): Liminalität und Communitas. In: Andréa Belliger, David J. Krieger (Hrsg.): Ritualtheorien. Ein einführendes Handbuch. Westdeutscher Verlag: Opladen; Bergedieck, A. (2019): Die Hoffnung auf einen "Safe Haven": Lebensgeschichtliche Forschung unter Migranten im Münsterland, Baden Baden: Nomos Verlag.

6 BMFSFJ/UNICEF (2021), op. cit.

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