Angst um Afghanistan
Jeden Tag erreichen uns neue Schreckensmeldungen aus Afghanistan. Menschen fliehen um ihr Leben, versuchen über den Flughafen in Kabul das Land zu verlassen. Doch die größten Fluchtbewegungen finden innerhalb des Landes statt: Rund 550.000 Afghan*innen wurden allein in diesem Jahr aus ihrer Heimat vertrieben. Aktuell lässt sich nicht sagen, wie sich die Situation entwickeln wird.
Afghanistan ist seit 40 Jahren von Konflikt und Vertreibung geprägt. Für viele Afghan*innen ist es auch nicht das erste Mal, dass sie unter den Taliban leben müssen.
Hamid* ist einer von ihnen. Im folgenden Gastbeitrag erzählt er uns seine Geschichte und beschreibt, wie es ihm mit der aktuellen Situation geht.
"Mein Name ist Hamid, ich wurde 1992 in Afghanistan geboren, als im Land noch Krieg herrschte. Ich komme aus der Maidan Wardak Provinz, die nur etwa 35 Kilometer von Kabul entfernt liegt.
Schon als ich geboren wurde herrschte Krieg in unserem Land. Als ich zwei Jahre alt war, hat eine Rakete unser Haus getroffen. Wir hatten Glück, niemand wurde verletzt oder ist ums Leben gekommen.
Zu der Zeit herrschten Konflikte zwischen unterschiedlichen Gruppen in Afghanistan. Kabul und Wardak waren in verschiedene Zonen aufgeteilt. Jede Gruppe wollte an die Macht. Schon damals sind viele Menschen vor der Gewalt aus dem Land geflohen. Die meisten nach Pakistan oder den Iran, manche auch nach Europa oder Amerika. Afghanistan und vor allem Kabul war durch den Krieg komplett zerstört, viele Häuser unbewohnbar und die Infrastruktur vielerorts zusammengebrochen.
Ich selbst komme aus einer Familie, in der Bildung eine wichtige Rolle gespielt hat. Ich habe neun Geschwister: acht Schwestern und einen Bruder, die zurzeit alle in Kabul wohnen.
Leben unter der Herrschaft der Taliban
Mit sechs Jahren bin ich in die Schule gekommen. Zu dieser Zeit waren die Taliban an der Macht. Weil so viele Gebäude in unserer Region zerstört waren, bekam ich nur einen Platz in einer Schule, die einige Kilometer von uns entfernt lag. Jeden Tag musste ich rund sieben Kilometer laufen, Busse oder Straßenbahnen gab es keine.
In der Schule mussten wir traditionelle afghanische Kleidung und einen Turban tragen. Wer es wagte, mit Jeans oder Hosen zu kommen, wurde geschlagen. Ich erinnere mich daran, dass eine afghanische Familie aus dem Iran zurückkehrte. Die Kinder kamen anfangs mit Jeans zur Schule und wurden hart bestraft. Generell wurden wir oft mehr geschlagen als zu lernen. Mädchen war es verboten, eine Schule zu besuchen.
Es gab auch keine Stühle oder Tische oder überhaupt richtige Tische für uns zum Lernen. Es gab nur einige Plastikteppiche und Utensilien von Unicef und dem UNHCR.
Die Zeit damals war sehr schwierig und selbst als Kinder haben wir viel mitbekommen.
Wir haben gemerkt, wie verängstigt viele Erwachsene und wie gefährlich die Taliban waren.
Wenn ich heute im Fernsehen die Taliban sehe, ist es, als würde ich 20 Jahre zurückgeworfen werden. Meine Angst ist immer noch da und dass, obwohl ich in einem sicheren Land in Europa lebe.
Die Taliban glauben nicht an Gerechtigkeit, Gerichte oder Gesetze. Sie haben ihre eigenen Gesetze und Institutionen. Eine davon ist das so genannte Feldgericht. Das findet sofort nach einer Tat statt, es gibt keinen Anwalt und keinen Prozess. Wenn jemand etwas klaut, wird sofort eine Hand oder ein Bein abgehackt und die Person danach ins Krankenhaus geschickt. Viele Menschen wurden damals auf der Straße hingerichtet, Frauen gesteinigt, auch in Kabul. Die Taliban haben das in aller Öffentlichkeit gemacht, damit alle sehen können, was passiert, wenn man sich nicht an ihre Gesetze hält.
Kindheit in Gefahr
Das musste ich als Kind miterleben und das ist auch der Grund, warum so viele Menschen gerade so verzweifelt versuchen, das Land zu verlassen. Viele erinnern sich noch an die Gräueltaten von vor 20 Jahren oder haben sie miterlebt.
Insbesondere meine Generation ist sehr unglücklich, niemand von uns hatte eine Kindheit. Wir hatten nichts zum Spielen, man durfte keine Musik hören, nicht Fernsehen oder überhaupt einen Fernseher besitzen. Frauen durften nicht alleine das Haus verlassen und mussten eine Burka tragen, Männer durften ihren Bart nicht rasieren.
Meine Familie besaß einen Fernseher. Da die Taliban aber manchmal einfach Häuser durchsuchten, vergruben wir den Fernseher zusammen mit anderen Sachen oft.
Es war eine schwierige Zeit, viele Menschen waren arbeitslos und mussten zuhause bleiben. Mein Bruder hat gearbeitet, um unsere Familie zu ernähren und ich habe auch angefangen zu arbeiten, als ich in der zweiten Klasse war. Nach der Schule hat er mich abgeholt und wir arbeiteten zusammen in dem Schuhgeschäft unserer Familie.
So ging es bis ins Jahr 2001, als die Amerikaner in Afghanistan einmarschierten und die Taliban aus vielen Regionen zurückdrängten. Die meisten Menschen waren sehr glücklich darüber, plötzlich sah man in unserer Nachbarschaft wieder Männer ohne Bart.
Nach der Schule wollte ich studieren, wurde aber nicht angenommen und habe dann einen Job in einer amerikanischen Logistikfirma in Kabul angenommen.
Flucht aus Afghanistan
Ich habe in verschiedenen Projekten für die NATO und ISAF gearbeitet, die die afghanische Armee unterstützt haben. Dort habe ich Essen angeliefert und war in Mazar-i-Sharif im Norden des Landes drei Jahre als Supervisor für das Projekt verantwortlich.
Die Leute, die mit Ausländern in Afghanistan zusammengearbeitet haben, wurden von den Taliban bedroht oder sogar getötet. Sie hatten zwar nicht die Macht über das ganze Land wie heute, aber in einigen Bezirken und auch in unserem Dorf.
Ich habe zu der Zeit ein Doppelleben geführt: Ich habe niemandem von meinem Job erzählt und wenn ich danach gefragt wurde, habe ich gesagt, dass ich als Kellner in einem Hotel arbeite, um meine Familie zu ernähren.
Neben der Arbeit habe ich außerdem ein Bachelor-Studium für Business Administration angefangen. Das war für mich und meine Eltern sehr wichtig.
Doch dann wurde ich von den Taliban entdeckt und mein Leben war in großer Gefahr. Ich habe Drohanrufe bekommen, sie kannten unsere Adresse und die afghanische Regierung war damals nicht in der Lage, ihre Bevölkerung vor der Bedrohung der Taliban zu schützen. Wir waren verzweifelt, ich hatte am Ende aber keine Wahl, als das Land zu verlassen und zu fliehen.
Die Heimat und die Familie zu verlassen ist ein Schmerz, den alle fühlen.
Bekannte von uns haben uns einen Schlepper empfohlen, der Menschen aus dem Land brachte. Ich hatte keine Zeit, ein Visum zu beantragen, das war zu gefährlich.
Die letzte Nacht in der Heimat
Die letzte Nacht in Kabul, meiner Heimat, war furchtbar, der Abschied von meiner Familie unbeschreiblich schmerzlich.
Der Schlepper hat mir über das Telefon Bescheid gegeben, wann und wo mich seine Leute abholen würden. Das war um zwei Uhr nachts und als ich das letzte Mal durch die Stadt gefahren bin, wusste ich nicht, ob ich jemals wieder dorthin zurückkehren oder ob ich die Flucht überhaupt überleben würde. Viele Menschen haben auf dem Weg ihr Leben verloren.
Ich war 48 Tage auf der Flucht. Ich habe viele Schwierigkeiten und Unmenschlichkeiten auf der Flucht erlebt, musste 20 Tage ungeduscht und auf dem Boden schlafen, zum Essen habe ich nur Wasser und Biskuits bekommen. Im Iran wurde mein Geld und meine Schuhe geklaut und ich habe die Grenze nur mit Sandalen überschritten.
Ankunft in Sicherheit
Ich bin sehr froh, dass ich heute in einem sicheren Land bin und dankbar für alles, was es hier gibt.
Ende 2015 kam ich nach Deutschland, am Anfang in ein Flüchtlingsheim in Krefeld und dann kam ich nach Hattingen. Dort wohne ich heute. Hattingen ist eine kleine Stadt und ich liebe sie und ich fühle mich wohl.
Meine liebsten Erinnerungen an Afghanistan sind die Feiertage, an denen man mit der ganzen Familie zusammen war und alle glücklich waren.
Man muss die Zeit mit der Familie und Freunden genießen und dankbar sein. Solche Momente wiederholen sich nicht unbedingt, das weiß ich heute.
Angst um die Familie
Ich habe in meinem Leben viele Schwierigkeiten erlebt, ich musste in einem ganz neuen Land bei null anfangen und war hier oft von Abschiebung bedroht. Aber ich habe mich noch nie so gefühlt wie heute, wenn ich sehe und höre, was in Afghanistan passiert. Ich kann nicht schlafen und nicht essen. Ich mache mir solche Sorgen um meine Familie und meine Freunde. Sobald ich auf Facebook gehe, sehe ich Bilder und Filme. Ich hätte nicht gedacht, dass die Taliban so schnell die Kontrolle übernehmen, das ist schrecklich.
Ich telefoniere im Moment mehrmals am Tag mit meiner Familie, meinen Schwestern und auch Freunde in Afghanistan und im Ausland, alle sind verzweifelt und haben Angst vor der unsicheren Zukunft und jeder versucht, irgendwie einen Weg nach draußen zu finden. Viele sind bereit, wegen ihrer Kinder alles zu verlassen und aus Afghanistan zu fliehen, niemand kann sich vorstellen, unter einer Regierung der Taliban zu leben.
Afghanistan hat sich in den letzten Jahrzehnten weiterentwickelt, die Machtübernahme wirft uns aber weit zurück und es wirkt so, als sei vieles umsonst gewesen.
Lebensmittel sind zwei- oder sogar dreimal so teuer geworden, die Grenzen sind zu und es kommen überhaupt keine Produkte mehr ins Land.
Die Banken sind geschlossen und die Menschen haben kein Bargeld mehr, um ihre Grundbedürfnisse zu erfüllen. Auch die Internetverbindung ist ein großes Problem, im Moment ist es sehr schwierig Guthaben zu finden und kaufen.
Wir wissen auch nicht, was mit dem Strom passieren wird. Afghanistan produziert sehr wenig Strom und kauft das meiste von Usbekistan. Wenn die Regierung kein Geld hat oder nicht bezahlt, dann kommt auch kein Strom."
Die neu vertriebenen Afghan*innen benötigen dringend Notunterkünfte, Nahrungsmittel, Gesundheits-, Wasser- und Sanitärversorgung sowie Bargeldhilfen. Der UNHCR ist vor Ort und hilft so gut er kann, doch die Gelder fehlen. Daher bitten wir Sie:
Bitte unterstützen Sie den UNHCR und seine Nothilfemaßnahmen mit Ihrer Spende!
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