blauPAUSE

Teilen

Blog

„Jetzt haben wir Raum zum Sprechen. Aber wir haben noch einen langen Weg vor uns.“

Früher als Flüchtling in Burundi aufgewachsen, heute als Mitarbeiterin für den UNHCR für geflüchtete Frauen auf der ganzen Welt im Einsatz - wir sprechen mit Juliette über ihre Geschichte und ihre Arbeit

Mindestens 50 Prozent der mehr als 80 Millionen Menschen auf der Flucht sind Frauen und Mädchen. Sie sind nicht nur auf der Flucht besonderen Gefahren ausgesetzt, sondern erfahren in vielen Gesellschaften täglich Diskriminierung sowie körperliche und seelische Gewalt. Auch wenn es in den letzten Jahrzehnten viele Fortschritte gab, sind wir von einer globalen Gleichstellung der Geschlechter noch weit entfernt. Die Corona-Pandemie hat an vielen Stellen sogar zu Rückschritten in dem Bereich geführt.

Wir haben mit Juliette Murekeyisoni, Senior Field Officer des UNHCR, gesprochen, um eine persönliche Perspektive zu dem Thema zu bekommen. Juliette wurde 1973 als Tochter ruandischer Flüchtlinge in Burundi geboren und wurde Zeugin der Folgen des Völkermordes in Ruanda von 1994, als viele Frauen und Kinder in Burundi Schutz suchten. Kaum aus der High School heraus, stahl sie sich von ihrer Familie weg nach Ruanda, wo sie etwas begann, das zu einer lebenslangen Arbeit mit Flüchtlingen - meist Frauen und Kindern - werden sollte.
Heute arbeitet Juliette für den UNHCR in Peru mit Menschen, die vor Gewalt und Instabilität in Venezuela geflohen sind. COVID-19 hat ihre Arbeit erschwert. Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt nimmt zu, Vermieter vertreiben Menschen, und viele Flüchtlinge haben keine Möglichkeit, Geld zu verdienen.


Doch Juliette sagt: Es gibt Hoffnung. Heute ist die Situation besser als noch vor 25 Jahren – wir dürfen jetzt nur nicht nachlassen.

Kannst du uns etwas über deinen Hintergrund erzählen?
Ich bin in Burundi geboren und meine Eltern waren Flüchtlinge. Sie mussten 1959 wegen Verfolgung und ethnischer Gewalt ihre Heimat Ruanda verlassen. Unser Leben und das Aufwachsen in Burundi war hart. Mit 13 musste ich Erdnüsse verkaufen, und meine Mutter nähte, um Lebensmittel und unsere Miete zu bezahlen.
Wir hatten eine Hütte aus Lehm, und ich musste immer wieder Gras für das Dach des Hauses mähen, denn nach einiger Zeit wird es alt und dann regnet es ins Haus.
Wasser war auch so eine Sache: Ich musste über zwei Kilometer zu Fuß gehen, um Wasser zu holen. Aber ich habe immer versucht dankbar zu sein für das, was wir trotz allem hatten, und habe gelernt, kreative Lösungen zu finden.

1994, kurz nachdem Du das Gymnasium abgeschlossen hast, begann der Völkermord in Ruanda, und Du wolltest helfen. Dafür hast du etwas gemacht, das sich nicht viele trauen würden – was genau war das?
Ich habe mir schon immer gesagt: "Irgendwann werde ich nach Hause [nach Ruanda] gehen. Ich werde nicht als Flüchtling sterben.“ Während des Völkermordes habe ich dann erlebt, wie ruandische Flüchtlinge nach Burundi kamen, viele von ihnen mit Wunden von Macheten, und beschloss, dass ich helfen musste. Ohne es meiner Familie zu sagen, bin ich dann mitten in der Nacht nach Ruanda aufgebrochen.
Dort haben viele Freiwillige in Krankenhäusern geholfen, andere suchten an den Orten des Massakers nach Menschen, die noch am Leben waren. Ich schloss mich ihnen an. Der Anblick vor Ort war schrecklich. Leichen bedeckten den Boden, und der Gestank des Todes war überall. Diesen Gestank werde ich nie mehr vergessen.

Doch was soll man dann tun? Mich hinsetzen und weinen? Nein. Dafür ist keine Zeit.

Du hast in den letzten Jahrzehnten auf der ganzen Welt für den UNHCR gearbeitet und vor allem geflüchtete Frauen und Mädchen unterstützt. Eine ganz besonders herausfordernde Stelle war sicher deine Zeit im Jemen, wo du 2008 warst. Kannst du uns mehr darüber erzählen?
In Sana'a war ich als Sozialarbeiterin tätig und habe hauptsächlich mit somalischen Flüchtlingen und ihrer Gastgemeinde gearbeitet. Die Flüchtlinge lebten in der Stadt und nicht in einem Flüchtlingslager, was es schwieriger machte, sie zu erreichen und zu unterstützen. Wir richteten ein Programm für Sozialarbeiter ein und sorgten dafür, dass Frauen einbezogen wurden.
Es war sehr wichtig, dass so viele Frauen wie möglich dort arbeiten, denn sonst würde man da nur Männer in leitenden Positionen sehen. Bald waren Männer und Frauen Hand in Hand aktiv. Das ist eine der Errungenschaften, auf die ich sehr stolz bin, denn da konnte man die Veränderung tatsächlich sehen.


Was waren einige Dinge, die Du im Jemen ausprobiert hast, die damals neu oder anders waren?
Zuerst haben wir Frauen- und Jugendverbände gegründet. Wir haben viele Schulungen über sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt (SGBV) mit Frauen und Mädchen durchgeführt, aber ich war davon überzeugt, dass wir auch mit denjenigen arbeiten müssen, die diese Art von Gewalt ausüben, vor allem Männer. Wir begannen Schulungen mit dem Jugendverband und den Betreuern, wo junge Männer und Frauen bereits zusammenarbeiteten. Man kann sich natürlich vorstellen, dass es damals ein Tabu war, mit Männern über so etwas zu sprechen. Am Anfang war es ihnen peinlich, aber langsam wurden sie interessierter und engagierten sich mehr für das Thema. Später führten wir auch Schulungen mit männlichen Gemeindeleitern durch. Das war ein großes Risiko. Ich war nicht einmal sicher, ob sie je wieder mit mir sprechen würden. Stattdessen baten sie um mehr Schulungen zu diesem Thema. Bald begannen die Auszubildenden, das Bewusstsein in ihren Gemeinden zu schärfen.

Kannst du uns von konkreten Beispielen deiner Arbeit im Jemen erzählen?
Als ich im Jemen war, traf ich mehrere Frauen, die es wirklich schwer hatten oder die wegen der weiblichen Genitalverstümmelung eine Krankheit bekommen haben. Mein Team und ich hatten uns regelmäßig beim Tee mit Frauen und Jugendlichen getroffen. Die meisten waren gegen dieses Verfahren, meinten aber, sie könnten es nicht verhindern. Einige sagten uns sogar: "Oh, ich habe meine Tochter bei der Großmutter gelassen und kam zurück, und sie war beschnitten. Ich dachte: "Was?!"
Ich unterstützte sie, damit sie die Kraft finden konnten, der älteren Generation und ihren Traditionen die Stirn zu bieten. Ich traf mich auch mit drei älteren Frauen, die diese Verfahren durchführten. Schließlich gestanden sie, dass dies ihr einziges Einkommen war. Also nahmen wir sie in das UNHCR-Programm zur Sicherung des Lebensunterhalts auf. Sozialarbeiterinnen überwachten sie genau und stellten sicher, dass sie die Verfahren nicht mehr durchführten. Das war nicht leicht.

Aber selbst wenn man nur einem Mädchen hilft, hat man etwas bewirkt.

Wie hat sich die Coronavirus-Pandemie auf die Fortschritte der Situation von Frauen ausgewirkt? Gewalt gegen Frauen steigt in solchen Situationen tendenziell an. Hast Du das in Peru gesehen, wo du aktuell für den UNHCR arbeitest?
Oh mein Gott, ja. Seit der Pandemie haben die Femizide in Peru zugenommen. Der UNHCR wurde von den lokalen Behörden informiert, dass sie seit März 50 Prozent mehr Notrufe von Frauen erhalten, die von Gewalt bedroht sind.
Deshalb mietete UNHCR für ein paar Tage sichere Orte an, an die wir Überlebende in Sicherheit bringen können. Danach können wir sie in einem sicheren Haus unterbringen, so dass sie nicht gezwungen sind, zu ihren Partnern zurückzukehren. UNHCR-Mitarbeitende bleiben auch danach mit ihnen in Kontakt, um sie psychosozial zu unterstützen und an einer nachhaltigeren Lösung zu arbeiten, z.B. indem sie ihnen für ein paar Monate Geld für Miete und Lebensmittel zur Verfügung stellen.
 

Wie verdienen die Frauen im Land während der Pandemie ihren Lebensunterhalt?
In Peru arbeiten über 90% der venezolanischen Flüchtlinge und Migrant*innen in informellen Jobs, und sie verdienen ihr Geld von Tag zu Tag. Sie haben die Auswirkungen der Pandemie sehr stark zu spüren bekommen, durch die sie in vielen Fällen nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihr Zuhause verloren haben. Viele wurden vertrieben, wodurch die humanitäre Hilfe des UNHCR für viele Flüchtlinge in Peru zu einer letzten Lebensader wurde.

Du hast in den letzten Jahren auf der ganzen Welt mit Frauen gearbeitet und viel erlebt. Wenn du auf den Anfang deiner Karriere zurückblickst und das mit heute vergleichst - sind wir in dem Bereich als Gesellschaft weitergekommen?
Es gibt eine Bewegung in die richtige Richtung. Ich bin zum Beispiel so stolz darauf, sagen zu können, dass Ruanda das erste Land der Welt ist, in dem eine Mehrheit der hochrangigen Positionen im Parlament von Frauen besetzt ist (ca. 60%). Die Frauen gehen voran, und die Mädchen gehen zur Schule.
Wir sehen, wie Frauen Präsidentinnen werden und in den Weltraum fliegen. Aber nicht alle Mädchen haben die gleichen Chancen. Neulich habe ich ein venezolanisches Flüchtlingsmädchen kennen gelernt, das momentan eine Ausbildung zur Kosmetikerin macht. Aber eigentlich wollte sie Pilotin werden.

Dieses Mädchen sollte die Möglichkeit haben, ihre Träume zu verwirklichen und die Bildung zu bekommen, die sie braucht, um die beste Version von sich selbst werden zu können.

Deshalb müssen wir weiterhin mit Regierungen, Gemeinden und UN-Organisationen zusammenarbeiten, um diese Lücken für Mädchen auf der ganzen Welt zu schließen.

Glaubst Du, dass es den Frauen in der Welt heute besser geht als vor 25 Jahren?
Mein Gott, 100% Ja. Jetzt haben wir Raum zum Reden. Vorher hatten wir keinen. Aber wir haben noch einen langen Weg vor uns. Beim UNHCR zum Beispiel, sehe ich eine Veränderung, einige Frauen sind in höheren Führungspositionen, aber Frauen sind immer noch unterrepräsentiert. Ich hoffe, dass wir weiterhin auf die Gleichstellung der Geschlechter bei der UN hinarbeiten können, um ein Beispiel für andere zu sein.
Mein Hauptanliegen ist die Bildung. Heute sehen wir mehr Mädchen in der Schule, während sie vor 25 Jahren vor allem zu Hause bei der Hausarbeit unterstützen mussten. Das ist immer noch nicht genug. Ich würde mir wünschen, dass 100% der Kinder, sowohl Mädchen als auch Jungen, zur Schule gehen. Es spielt keine Rolle, ob wir reich oder arm sind, wir müssen uns auf die Bildung konzentrieren.

Was würdest Du dir für die Flüchtlinge und Vertriebenen, mit denen Du arbeitest, im nächsten Jahr oder sogar in fünf Jahren wünschen?
Als ich 2011 in Äthiopien gearbeitet habe, wurde ich zu einer Hochzeit im Flüchtlingslager von Kobe eingeladen und war schockiert, als ich sah, dass es sich um eine Hochzeit zwischen einem 13-jährigen Mädchen und einem 65-jährigen Mann handelte. Die Mutter erklärte, da der Mann ein Häuptling sei, wäre es für die Tochter gut, ihn zu heiraten. Ich dachte: "Wie kann ich das verhindern?" Ich versuchte mein Bestes, aber ich scheiterte. Ich verbrachte Monate und Monate damit, darüber nachzudenken, was mit dem kleinen Mädchen geschehen war.
Ich glaube, wir müssen den Fortschritt im Kampf gegen die Kinderheirat beschleunigen. Andernfalls werden bis 2030 mehr als 120 Millionen Mädchen heiraten, bevor sie 18 werden. Wenn Mädchen so jung heiraten, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass sie in der Schule bleiben, und es ist wahrscheinlicher, dass sie häusliche Gewalt erleben.


Ich würde mir auch wünschen, dass sich mehr gewaltsam vertriebene Frauen zu Wort melden, Zugang zu Bildung erhalten und sich ihre Träume in allen Arbeitsbereichen erfüllen, sei es im humanitären Bereich, in der Regierung oder beim Fliegen eines Flugzeugs.

Danke für das Gespräch Juliette!

Wie sie Helfer*in werden können!

 

Kommentare und Antworten

×

Name ist erforderlich!

Geben Sie einen gültigen Namen ein

Gültige E-Mail ist erforderlich!

Gib eine gültige E-Mail Adresse ein

Kommentar ist erforderlich!

* Diese Felder sind erforderlich.

Teilen Sie Ihre Gedanken mit uns.