Das Leben eines Nothelfers
Vivian Tan arbeitet seit vielen Jahren für den UNHCR im Bereich Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie hat schon in vielen verschiedenen Ländern gearbeitet und kennt die schwierige Arbeit in akuten Krisensituationen. Kürzlich reiste sie für einen mehrtägigen Projektbesuch ins Grenzgebiet zwischen Sudan und Südsudan, wo der UNHCR derzeit mehr als 200.0000 sudanesische Flüchtlinge versorgt.
Unter welchen Umständen ihre Kollegen dort leben, schildert sie uns in ihrem Tagebuchbericht aus Yida:
In Yida stell ich wieder einmal fest, wie viel wir für selbstverständlich halten. Sei es Strom, Gemüse, sauberes Trinkwasser oder Toilettenpapier.
Hier, wo rund 60.000 Flüchtlinge aus Sudan Zuflucht suchen, gibt es all dies nicht. Nicht für die Flüchtlinge und auch nicht für meine Kollegen, die hier ihr Möglichstes versuchen, die Flüchtlinge zu versorgen und in Sicherheit zu bringen.
Entbehrungen und Gefahren
Wir haben unseren Kollegen etwas Obst und Gemüse mitgebracht, um ihnen etwas Abwechslung zu ihrer täglichen Ration Reis und Bohnen zu bieten. Als wir die Körbe aus dem Auto holen, strahlen ihre sonnenverbrannten Gesichter. „Wir haben Tomaten und Kartoffeln!“, rufen sie fast ungläubig. Als einer von uns auch noch einige Bananen hervorzaubert, stürzen sich unsere Kollegen förmlich darauf. Jeder schnappt sich eine und zieht sich in eine Ecke des Raumes zurück, wo sie die Bananen genüsslich verspeisen – nicht ohne einander misstrauisch zu beobachten. Die „Gefahr“ ist einfach zu groß, dass jemand ihnen die Banane wieder wegnehmen könnte. Einer von ihnen versteckt sie sogar in seinem Zelt. Ich fühle mich, als ob ich eine Tierdokumentation anschaue.
Die Neuigkeit hält bis zum Abendessen an. Mitarbeiter von Partnerorganisationen kommen vorbei und erkundigen sich, ob die Gerüchte über Obst und Gemüse wahr sind. Mittlerweile ist es stockdunkel. Per Kopflampen laufen sie umher und prüfen die mitgebrachten Köstlichkeiten.
Das komplette Gelände wird nur durch eine einzelne Glühbirne erhellt. Als der Generator anspringt, starren alle wie die Motten auf das Licht und suchen nach der Steckerleiste, um ihre Handys und Laptops aufzuladen.
Im Dunkel hört man ab und an ein Stampfen und ein triumphierendes „Hah!“. Skorpione... Ich checke meine E-Mails, ohne noch einmal meine Füße auf den Boden abzusetzen. Ich will kein Zusammentreffen mit einem Skorpion riskieren. Während dessen diskutieren meine Kollegen über Ideen, wie man den Flüchtlingen noch besser helfen kann. Sie sprühen vor Energie und Enthusiasmus, mit dem sie das ganze Camp erleuchten könnten.
Probleme in der Abgeschiedenheit
Handyempfang.... nun, das ist auch so ein Problem. Einen meiner Kollegen finde ich auf einem Autodach stehend. Das Handy ans Ohr gepresst, steht er auf Zehenspitzen und kämpft mit der immer wieder zusammenbrechenden Leitung. Ein andere läuft umher, sein Telefon an einen Stab gebunden. Ein Dritter hockt auf einem Ast hoch oben im Baum. Jeder sucht ein Empfangssignal, um ihren Familien berichten zu können, dass es ihnen gut geht. Dort, wo vor einigen Monaten noch Bomben fielen.
Keine Zeit für Eitelkeiten
Eitelkeit verliert sich an einem Ort wie Yida. Ich habe seit Tagen nicht mehr in den Spiegel geschaut. Eines morgens treffe ich auf einen Kollegen mit Zahnpastaschaum am Mund. In dem Moment lecke ich mir selbst die Lippen und bemerke erst da, dass ich selbst mit einem Instant-Kaffe-Schnurrbart herumlaufe.
Frisur? Einfach ein UNHCR-Cap bis zur nächsten Dusche aufsetzen. Hier gibt es Menschen, die ich ohne ihre Mütze nicht erkennen würde.
Stolz ist passé, wenn man statt einer Toilette nur ein Loch im Boden hat, dass voller Fliegen ist. Oder wenn duschen bedeutet, sich mit einer Schöpfkelle kaltes Wasser aus einem Eimer über den Kopf zu kippen, was jedoch völlig sinnlos ist, da man nach fünf Minuten sowieso wieder schwitzt. Einige scheren sich um solche Förmlichkeiten gar nicht mehr und erhalten dann Spitznamen wie „Dirty Fred“.
Nur ein Mann – unser Sicherheitschef – lässt sich nicht gehen. Er befüllt ein altes Bügeleisen mit glühenden Kohlen und bügelt seine Hemden auf einer sorgfältig zusammengelegten UNHCR-Decke. Vielleicht hat es nichts mit Stolz zu tun. Vielleicht versucht er lediglich, Wurmeier zu verbrennen, die sich sonst unter der Haut einnisten können.
Respekt und Anerkennung
Ich weiß nicht, was mich mehr ängstigt – die Vorstellung von Maden unter meiner Haut oder das Risiko, dass wieder Bomben auf Yida fallen. Ich habe Glück, dass ich nur zu Besuch bin und bewundere meine Kollegen:
- Für ihre Entscheidung, so dicht an der gefährlichen Grenze zu leben.
- Für ihre Bereitschaft, täglich lediglich Reis und Bohnen zu essen.
- Für ihre Großzügigkeit, mit Toilettenpapier und Wasserflaschen auszuhelfen, obwohl man für Nachschub eine Stunde fahren muss.
- Dafür, dass sie Durchfall ebenso stoisch ertragen wie fette, glänzende, grünäugige Fliegen auf den Latrinen.
- Für ihren Wagemut, nur Flip-Flops zu tragen, obwohl es vor Skorpionen wimmelt.
- Für ihre Fähigkeit, während einer langen und extrem holprigen Autofahrt zu schlafen, ohne dabei Haltung zu verlieren.
- Und ganz besonders für ihren Humor in äußerst schweren Zeiten.
Lange Rede, kurzer Sinn: Das ist UNHCR-Nothilfe in bester Form.