Der Wunsch nach Selbstbestimmung: Syrische Geflüchtete in Jordanien
Jordanien ist ein faszinierendes Land. Reich an Kultur, schönen Landstrichen, an freundlichen Menschen, an Gastfreundschaft. Gleichzeitig arm, was die natürlichen Ressourcen betrifft: Fehlende Bodenschätze, lediglich knappe Wasservorräte und eine nur in wenigen Gegenden ertragreiche Landwirtschaft sind einige der Gründe, warum Jordanien zu den Ländern mit hoher Arbeitslosigkeit und durchschnittlich schwacher Einkommensstruktur gehört.
Das Land mit ungefähr 10 Millionen Einwohner*innen beherbergt ca. 750.000 Flüchtlinge, die vor allem aus Syrien stammen. Jordanien hat damit nach dem Libanon die meisten Flüchtlinge pro Einwohner*in aufgenommen. So vielen Menschen in Not Schutz zu gewähren, ist eine bewundernswerte, großartige Leistung. Ohne internationale Hilfe wäre sie allerdings in diesem Ausmaß nicht möglich. Die Arbeit des Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) ist für die Sicherheit, den Schutz und die Gestaltung von Perspektiven für ihre Zukunft unverzichtbar. Der UNHCR sorgt für notwendige Hilfen im Alltag der Flüchtlinge, kooperiert mit den staatlichen Stellen mit dem Ziel der Teilhabe an der Schulbildung, der Gesundheitsversorgung und dem Arbeitsmarkt und koordiniert die Hilfeleistungen verschiedener Leistungsträger vor Ort. Ich konnte mich im Rahmen einer Reise davon überzeugen, wie notwendig und wertvoll die Arbeit des UNHCR ist.
Das zentrale Büro des UNHCR liegt mitten in Amman. Hier arbeiten 450 Menschen, die meisten sind lokale Mitarbeitende. Das verzweigte, in verschiedene Ankunftszeit-, Warte- und Beratungszonen gegliederte Besucherzentrum nimmt eine große Fläche ein. Hier werden alle für den Schutz der Flüchtlinge relevanten Daten – persönliche Angaben, Aufenthalt, Eheschließung, Geburt von Kindern – aufgenommen und gespeichert, Beratungen durchgeführt und Leistungsanträge gestellt.
Der UNHCR übernimmt insoweit in Absprache mit der jordanischen Regierung die Aufgaben, die in Deutschland staatliche Stellen erledigen. Über tausend Schutzsuchende kommen täglich hierher.
Beeindruckt hat mich die rege Betriebsamkeit, gleichzeitig aber auch die von Konzentration und Freundlichkeit geprägte Atmosphäre.
Den Flüchtlingen steht zudem rund um die Uhr eine telefonische Help-Line in verschiedenen Sprachen zur Verfügung, über die auch die Termine für das Registrierungszentrum vergeben werden. Bemerkenswert ist der hohe Digitalisierungsgrad der Arbeit; so werden die Personalien durch Eyescanning bei der Registrierung festgehalten und die Bargeldhilfen über eine Geldkarte und zunehmend das Mobilphone (mobile wallet) ausgegeben. Diese Digitalisierung vereinfacht die Zuteilung der Geldbeträge, stärkt die Selbstständigkeit und Planung bei der Mittelverwendung und hat – wie jede Bargeldhilfe – den Vorteil, dass die lokale Wirtschaft partizipiert und so die Akzeptanz der Flüchtlinge erhöht wird
Eine Flüchtlingsfamilie in Amman
Nur 17 Prozent der Flüchtlinge leben in Camps, die weitaus überwiegende Mehrheit ist dezentral in Wohnungen untergebracht. Ich habe die alleinerziehende Mutter Aabidah besucht, die mit ihrem Mann und zwei Kindern vor einigen Jahren aus Damaskus geflohen ist und in Amman lebt. Sie und ihr Mann führten in Syrien einen kleinen Supermarkt; die Erinnerung daran bringt die ernsthafte und zurückhaltende Frau zum Lächeln. Der soziale Abstieg von einem ökonomisch abgesicherten Leben in Syrien zu einem durchweg auf Hilfe angewiesenen Leben in einem fremden Land ist schwer zu verkraften – zumal Aabidah nach dem Tod ihres Mannes im vergangenen Jahr nun alleine für vier Kinder verantwortlich ist. Ich bewundere ihren Mut und ihre Ausdauer, nicht aufzugeben, und ihre Hartnäckigkeit, sich für eine bessere Zukunft ihrer Kinder einzusetzen. Ihre Wohnung ist mit drei Zimmern relativ geräumig, jedoch spärlich möbliert. Die zwei älteren Kinder gehen zur Schule. Sie profitieren von einer Vereinbarung zur Inklusion der Kinder der Flüchtlingsfamilien in den jordanischen Regelschulbetrieb, die der UNHCR mit der jordanischen Regierung treffen konnte. Die Ausbildung der Kinder ist ein zentrales Anliegen, sie ist ein Grund für Hoffnung und der einzige Anlass, eine ausdrückliche Bitte an uns zu richten:
Wenn der UNHCR die Kosten für die Inanspruchnahme des Schulbusses tragen könne, sei dies eine große Hilfe.
Die beiden jüngeren Kinder, vier und sechs Jahre alt, werden von der Mutter betreut. Aabidah berichtet von ihrer Schwierigkeit, den Lebensunterhalt mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu bestreiten. Es sei inzwischen so, dass sie bereits Mitte des Monats Schulden machen müsse, um über die Runden zu kommen. Sie erhalte Kredite bzw. Hilfen von syrischen Freund*innen oder der Nachbarschaft, die manchmal ihre Familie auch zum Essen einlade. Hintergrund der zunehmenden Not sind außer den gestiegenen Lebenshaltungskosten die sinkenden Mittel des World Food Programms, die bei besonders vulnerablen Gruppen – wie etwa die Familie von Aabidah – zwar durch Bargeldhilfe des UNHCR ergänzt werden, die aber gemessen an dem Bedarf der in Jordanien lebenden Flüchtlingen unterfinanziert ist. Gerne würde Aabidah eine Arbeit aufnehmen, aber dies sei – so Aabidah – sehr schwierig und schon wegen der zu betreuenden kleineren Kinder derzeit nicht möglich. Als ich den kleinen Jungen frage, ob er gern Fußball spielt, lockert sich die Atmosphäre auf. Er verkündet, ein Fan der argentinischen Nationalmannschaft zu sein und wir lassen den herbeigeholten Ball einige Male zwischen uns hin und her rollen.
Besuch des Flüchtlingscamps Azraq
Die beiden größten Flüchtlingscamps in Jordanien sind Zaatari mit ca. 80.000 und Azraq mit ca. 40.000 Menschen, mehr als die Hälfte sind Kinder. Während das Camp in Zaatari seit Beginn des Krieges in Syrien wild gewachsen ist, hat man Azraq an der Grenze zu Syrien für die Unterbringung vor allem von syrischen Flüchtlingen am Reißbrett geplant. Sowohl die Lage im „Nowhere“ als auch die Nähe zur syrischen Grenze sind politisch gewollte Symbole für einen nur vorübergehenden Aufenthalt mit dem Ziel der Rückkehr in die Heimat oder einer Aufnahme durch andere Länder.
Ich habe mit dem UNHCR Azraq besucht. Von Amman schlängelt sich unser Auto zunächst durch den dichten Straßenverkehr der Stadt und biegt dann auf die Landstraße noch Osten ein. Der Weg führt durch eine wüstenähnliche Landschaft – darin am Anfang hin und wieder kleinere Betriebe und dann nur noch weit verstreut einzelne Behausungen. Nach etwa einer Stunde Fahrt taucht in der Ferne eine Vielzahl von weißen kleinen Hütten auf – ein Areal in weiß-grau-beige in der Sonne, nur ganz selten versprengt ein grüner Tupfer. Azraq liegt so abgelegen in der weit zu überblickenden Wüste, dass ein Verlassen kaum möglich ist bzw. sofort bemerkt würde. Das Camp ist ein großes Dorf mit staubigen geraden langen Straßen. Nach der Ankunft sehe ich: Viele Blechbehausungen sind rostig und renovierungsbedürftig. Für eine Reparatur oder einen Ersatz fehlen jedoch – so die Information – die notwendigen Mittel. Sofort drängen sich mir Fragen auf:
Wie fühlen sich die Menschen in seiner solch trostlosen Umgebung? Wie beschäftigen sie sich den Tag über? Welche Perspektiven haben sie?
Nach einem herzlichen Empfang und einer informativen Einführung im Besucher- und Begegnungszentrum, einer Rundfahrt durch das Camp und einigen Gesprächen mit Flüchtlingen hat sich das Bild vom Camp-Alltag zusammengesetzt.
Einrichtungen für den notwendigen Mindestbedarf sind vorhanden: Es gibt Einkaufsmöglichkeiten, Schulen, Gesundheitszentren, ein Hospital, zentrale Wasch- und Duschanlagen. Der Zugang zu Elektrizität wird im Rahmen eines Pilotprojekts zu 65 Prozent durch Solarenergie abgedeckt. 69 Prozent der Kinder gehen in die Schule oder nehmen an anderen Bildungsmaßnahmen teil. Besonders positiv fallen mir die Möglichkeiten einer sinnvollen Beschäftigung auch für Erwachsene auf: In einem Saal mit Nähmaschinen schneidern und basteln einige Frauen; sie können die Produkte auf einem Bazar zum Verkauf anbieten. In einem Computerkurs mit nur weiblichen Teilnehmenden wird hoch konzentriert gearbeitet; als ich den männlichen Ausbilder (suggestiv) frage, ob Frauen oder Männer ein besseres Verständnis in IT-Angelegenheiten hätten, nennt er von zufriedenem Kopfnicken aller begleitet „natürlich“ die Frauen. Es gibt auch die Möglichkeit, sich bei der Organisation des Camps zu beteiligen: Der sogenannte Volontärdienst mit einem kleinen Extraentgelt, der knapp zur Hälfte von Frauen verrichtet wird, stärkt die Resilienz und Eigenverantwortung.
Bemerkenswert ist, dass die Mitarbeitenden Frauen – gerade auch in Gegenwart von Männern – besonders respektvoll behandeln.
In einem sehr lebhaften ausführlichen Meinungsaustausch in einer Runde mit mehreren weiblichen und männlichen Flüchtlingen gelingt es dem Dolmetscher, das Gespräch so zu moderieren, dass jede Frau und jeder Mann zu Wort kommen. Die Sorgen der Teilnehmenden betreffen angesichts der knappen finanziellen Mittel die hinreichende Versorgung mit Lebensmitteln, die weiten Wege zur Wasserstelle, vor allem aber die fehlenden Arbeitsmöglichkeiten und die unsicheren Aussichten für die Zukunft. Immer wieder zeigt sich einerseits die Dankbarkeit, hier in Sicherheit zu sein, anderseits ist die Befürchtung präsent, eines Tages gegen den eigenen Willen nach Syrien trotz drohender Repressalien zurückkehren zu müssen und keine ausreichende Perspektive für ein eigenständiges Leben zu haben. Die zum Ausdruck gebrachte Hoffnung auf eine neues Leben - vielleicht in einem Drittstaat - und vor allem die gute Ausbildung der Kinder und zumindest ein besseres Leben für sie ist berührend. Am Ende des Gesprächs kommen mehrere Frauen auf mich zu und drücken meine Hände.
Vor unserer Abfahrt haben einige Kinder des Camps uns entdeckt und sind – wohl wegen der willkommenen Abwechslung - äußerst interessiert an dem fremden Besuch. Wir tauschen unsere Vornamen aus, sie zupfen an unserer Kleidung, fassen uns bei den Händen und wollen uns gar nicht gehen lassen. Das fröhliche Winken zum Abschied ist mir schwergefallen.
*Namen aus Schutzgründen geändert
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