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"Sie können sich gar nicht vorstellen, wie wichtig die Hilfe hier ist."

Im Interview versucht UNHCR-Repräsentant Jean-Nicolas Beuze, die katastrophale Situation im Jemen in Worte zu fassen.

Sechs Jahre Krieg haben den Jemen in die größte humanitäre Krise der Welt gestürtzt. Die verzweifelte Lage der Menschen vor Ort lässt sich kaum in Worte fassen und gerät bei uns doch allzu oft in Vergessenheit. Dabei war die Hilfe vor Ort nie wichtiger.

Jean-Nicolas Beuze, der Repräsentant des UNHCR im Jemen, erzählt im Gespräch mit Dietmar Kappe von der UNO-Flüchtlingshilfe davon, wie es gerade vor Ort aussieht und versucht, das Unvorstellbare zu beschreiben.

Das Gespräch hat uns sehr bewegt, aber die Erzählungen sind teils sehr drastisch. Wenn Sie die Arbeit des UNHCR vor Ort unterstützen möchten, können Sie das hier tun.

Wie sehen Sie die Situation im Jemen im Moment? Wie hat die Pandemie im vergangenen Jahr die Lebensbedingungen im Land verändert?

Die Situation im Jemen verschlechtert sich täglich, da sich der Konflikt verschärft und die Wirtschaft zusammenbricht. Das stürzt immer mehr Familien in bittere Armut. Durch den Konflikt werden weiterhin Zivilist*innen getötet und verstümmelt, insbesondere Frauen und Kinder. Viele Menschen werden weiterhin vertrieben und sie haben keine andere Wahl, als ihr Zuhause zu verlassen, um Sicherheit zu suchen.

Inzwischen wurde jeder achte Mensch im Jemen vertrieben, und zwei Drittel dieser vertriebenen Familien sind nur einen Schritt von der Hungersnot entfernt. Als die COVID-19-Pandemie das Land heimsuchte, hatten die meisten jemenitischen vertriebenen Familien, die UNHCR unterstützt, bereits Schwierigkeiten, Lebensmittel zu kaufen, Miete zu zahlen oder ihre Kinder zur Schule zu schicken. Mit dem Abflauen der Wirtschaft waren sie die ersten, die ihre Arbeit im informellen Sektor verloren.

Geflüchtet zu sein, erfordert täglich unmögliche Entscheidungen: zu essen oder ein Dach über dem Kopf der Familie zu haben.

Unter solch extremen Umständen kann der Kauf von Medikamenten oder Seife nur noch hintenanstehen. Unter solchen Umständen ist die Durchführung von COVID-Präventionsmaßnahmen weder vorrangig noch machbar. Die meisten Jemenit*innen sind auf das kleine Einkommen angewiesen, das sie tagsüber im informellen Sektor verdienen, um Lebensmittel für ihr Essen an diesem Tag zu kaufen: Sie können einfach nicht zu Hause bleiben.

Die meisten geflüchteten Familien im Jemen leben in überfüllten Unterkünften, in denen eine räumliche Trennung unmöglich ist, oder in informellen Unterkünften mit wenig Zugang zu fließendem Wasser, was regelmäßiges Händewaschen erschwert.

Diesen März haben wir ein weiteres tragisches Jubiläum: sechs Jahre Konflikt im Jemen. Wie hat sich das Leben der jemenitischen Bevölkerung in dieser Zeit verändert?

Sechs Jahre Konflikt bedeuten unzählige individuelle Tragödien. Viele Familien haben einen geliebten Menschen verloren, bei anderen wurden Kinder und andere Familienmitglieder durch Landminen oder Beschuss und Bombardierung verletzt. Viele haben alles verloren, als sie den Kämpfen entkamen und flohen, um in anderen Teilen des Landes Zuflucht zu finden. Alle kämpfen darum, über die Runden zu kommen, da die Preise für Lebensmittel in die Höhe schießen und es nur wenige Möglichkeiten gibt, den Lebensunterhalt zu verdienen.

Da die Hälfte der Gesundheitseinrichtungen durch den Konflikt zerstört wurde, ist der Zugang zur Gesundheitsversorgung extrem eingeschränkt. Zahlreiche Kinder gehen nicht mehr zur Schule. Jede vierte vertriebene Familie wird von einer Frau geführt, die aufgrund traditioneller soziokultureller Normen vor extremen Herausforderungen steht, um zu überleben. Und nun droht aufgrund des Konflikts, des Embargos und des Zusammenbruchs der Wirtschaft eine Hungersnot im Jemen.

Vertriebene Familien, die vom UNHCR unterstützt werden, sind viermal mehr von extremer Ernährungsunsicherheit bedroht als der Rest der Bevölkerung. Zwei Frauen namens Fatima haben einen starken Eindruck bei mir hinterlassen und verkörpern diese individuellen Tragödien. Die erste ist ein 14 Monate altes somalisches Mädchen in Aden. Ihr Vater war besorgt, da sie keine Nahrung, nicht einmal Milch, zu sich nahm. In der vom UNHCR unterstützten Gesundheitsklinik wurde sie gewogen. Fünf Kilo. Die Hälfte des Gewichts eines Babys in ihrem Alter. Das ist schwere Unterernährung. Die andere Fatima ist eine schüchterne Jemenitin, die wir in einer schäbigen Sammelunterkunft kennengelernt haben. Ihr Gesicht trägt noch immer die Spuren von Verbrennungen, die sie erlitt, als eine Bombe in ihre Nähe fiel, als sie auf dem Weg zum Markt war, um Lebensmittel zu kaufen.

Ich weiß, dass wir unser Bestes tun, um diesen beiden und Millionen anderen zu helfen, aber reicht das aus? Was für eine Zukunft haben sie?

Was brauchen die Menschen im Moment am meisten?

Zwei von drei Jemenit*innen sind für ihr tägliches Überleben auf humanitäre Hilfe angewiesen - und sie brauchen fast alles: von einem Dach über dem Kopf bis zu Bargeld, um Lebensmittel oder Medikamente zu kaufen. Die Jemenit*innen können sich kaum über Wasser halten.

Unsere Hilfe ist für Hunderttausende von Familien, die wir unterstützen, zu einer Lebensader geworden.

Aber was die Menschen im Jemen jetzt am meisten brauchen, ist Frieden. Ohne ein Ende des Konflikts besteht weiterhin die Gefahr, dass sie bei Bombenangriffen, Beschuss und Kämpfen vor Ort verletzt oder gar getötet werden; oder sie sind dazu gezwungen, ihre Heimat und ihre Gemeinden zu verlassen, wenn ihre Häuser im Konflikt zerstört werden.

Wie hilft der UNHCR? Sechs Jahre Konflikt bedeuten auch sechs Jahre Nothilfe: Können Sie sechs Wege nennen, wie der UNHCR das Leben im Jemen verändert?

Der UNHCR steht an vorderster Front bei der Soforthilfe für diese Familien, die vor kurzem in dem Konflikt alles verloren haben. Wir reagieren in erster Linie auf zwei Arten: Notunterkünfte und Bargeld, damit die Familien Lebensmittel, Medikamente oder Kleidung kaufen oder ihre Miete bezahlen können.

Sie können sich gar nicht vorstellen, wie wichtig eine Notunterkunft für Frauen und Kinder ist, um vor den Gefahren in den Gemeinden geschützt zu sein; für Menschen mit Behinderungen, um ein Stück Würde zu bewahren; und für ältere Menschen, die sich nach einem sicheren und privaten Raum sehnen, während sie mit den Gebrechen des Alterns kämpfen.
Leider muss ich offen sagen: Es ist schwierig, genügend Mittel zu bekommen, um diese Notunterkünfte rechtzeitig und in ausreichender Qualität bereitzustellen, da sie von einigen unserer Spender*innen allzu oft nicht als Priorität angesehen werden. Unser Bargeld-Hilfsprogramm, das sich an die bedürftigsten vertriebenen Familien richtet, ist der würdevollste Weg, den Menschen zu helfen, sich vor der Hungersnot zu schützen.

Wir wissen aus unseren Auswertungen, dass 97% derjenigen, die unser Bargeld erhalten, einen Teil davon für den Kauf von Lebensmitteln verwenden - meist Reis, manchmal Zwiebeln oder Tomaten und Brot. Wir wissen auch - und das ist äußerst besorgniserregend -, dass die meisten Familien ohne unser Bargeld ihre Ausgaben für Gesundheitsversorgung, Bildung und Produkte für Neugeborene kürzen würden. Viele Eltern sagten uns, dass sie aufhören würden zu essen, um sicherzustellen, dass ihre Kinder etwas haben. Und viele sagten uns auch, dass sie ihre Kinder vielleicht aus der Schule nehmen und sie arbeiten lassen oder sie verheiraten müssen.

Was motiviert Sie und gibt Ihnen Kraft, in einer so schwierigen und oft vergessenen Krise täglich für Flüchtlinge zu kämpfen?

Die Widerstandsfähigkeit, die so viele Jemenit*innen zeigen, ist unglaublich. Trotz all des Leids helfen sie sich weiterhin gegenseitig und nehmen sogar Flüchtlinge aus Somalia in ihren Gemeinden auf. Das Ausmaß des humanitären Hilfebedarfs und die schiere Zahl der Menschen, die unsere Hilfe benötigen, ist oft überwältigend. Aber jedes Mal, wenn der UNHCR Notunterkünfte liefert oder eine Familie in seine Bargeldverteilung aufnimmt, weiß ich, dass wir etwas bewirken.

Wie können wir helfen?

Hier vor Ort zu sein und mit Herausforderungen konfrontiert zu werden, die unüberwindbar scheinen, ist, ich will ehrlich sein, manchmal entmutigend. Zu wissen, dass die Deutschen an den Jemen und an den UNHCR denken, gibt uns jedoch die Kraft, weiterhin alles zu tun, um das Leben von Millionen vertriebener Jemenit*innen und somalischer Flüchtlinge, die im Jemen Asyl gefunden haben, zu verbessern.

Hier im Jemen kommt es auf jeden Euro an. Mit unserer Bargeld-Hilfe (135 Euro) kann eine Familie einen Monat lang für sich selbst sorgen  - einfach zum Überleben. Etwa 1,2 Mio. Vertriebenen konnte so im vergangenen Jahr geholfen werden, obwohl der UNHCR weitaus mehr Familien identifiziert hatte, die ebenfalls dringend Bargeldhilfe benötigen.

Unterstützen Sie uns, den UNHCR und andere humanitäre Partner, im Jemen und anderswo weiterhin, denn jeder Euro zählt. Es ist Ihr Verdienst, dass wir für die beiden Fatimas und viele andere da sein können. Machen Sie sich auch dafür stark, dass deutsche Entscheidungsträger*innen helfen, den Krieg im Jemen zu beenden und ihre Beiträge zur Auslandshilfe zu erhöhen. COVID-19 hat uns gezeigt, dass niemand sicher ist, wenn nicht jede*r Einzelne von uns sicher ist.

Es ist nicht die Zeit, Gemeinden im Stich zu lassen, die von Konflikten, Armut oder Naturgefahren betroffen sind. Natürlich denke ich auch an deutsche Familien, die von der Pandemie und ihren sozioökonomischen Folgen hart getroffen wurden. Aber in einer vernetzten Welt bin ich zuversichtlich, dass Deutschland und die Deutschen auch weiterhin ihre Solidarität mit den Menschen am anderen Ende der Welt zeigen werden.

Was ist Ihr größter Wunsch für die Menschen im Jemen?

Frieden. Ich wünsche mir, dass die Jemenit*innen die Chance bekommen, ihr Land wieder aufzubauen, miteinander Frieden zu schließen und sich auf eine gerechtere Gesellschaft zuzubewegen, die allen Raum gibt, auch Frauen, Minderheiten und Flüchtlingen, Menschen mit Behinderungen und älteren Menschen.

Ich wünsche mir, dass die Menschen im Jemen nicht länger von humanitärer Hilfe abhängig sind, um zu überleben, und dass jede*r Einzelne die Chance bekommt, sich nach seinen Fähigkeiten zu entwickeln und das Beste aus seinem oder ihrem Leben zu machen.

 

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