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„Was im Mittelmeer passiert, ist tausendfach unterlassene Hilfeleistung“

Der Gründer von SOS MEDITERRANEE Klaus Vogel spricht über die aktuelle Situation auf dem Mittelmeer.

Klaus Vogel
SOS Mediterranee

Im vergangenen Jahr haben 1166 Menschen ihr Leben auf dem Mittelmeer verloren oder gelten als vermisst. Die Region ist die tödlichste Grenze Europas - und nichts scheint sich zu ändern. Doch das Retten von Menschenleben auf See ist eine humanitäre Verpflichtung und sollte kein Grund für politische Diskussionen sein.

Seit vor sechs Jahren das italienische Seenotrettungsprogramm "Mare Nostrum" eingestellt wurde, versuchen nichtstaatliche Organisationen diese Lücke zu füllen. Klaus Vogel, Kapitän und Historiker, hat eine der bekanntesten von ihnen gegründet: SOS Mediterranee. Im Interview spricht er über seine Motivation, die aktuelle Situation auf dem Mittelmeer und seine Empörung über die gezielte Verhinderung von Rettungen.

In den letzten Wochen haben wir trotz des Winters von vielen Schiffsunglücken auf dem Mittelmeer gelesen, die Dunkelziffer liegt weit höher. Menschen sterben, weil fast niemand da ist, der sie rettet. Wie geht es dir damit?

Ich bin erschüttert, dass Europa es nicht fertigbringt, für sichere Fluchtwege zu sorgen und das Sterben auf dem Mittelmeer zu beenden. Die vielen Toten hätte es nie geben dürfen. Es sind jetzt sieben Jahre seit dem Besuch des Papstes auf Lampedusa vergangen, sechs Jahre seit dem Ende der staatlichen italienischen Seenotrettungsoperation Mare Nostrum, die in einem Jahr mehr als hunderttausend Menschen aus dem Mittelmeer gerettet hat. Aber wir stehen wieder da wie ganz am Anfang, bevor wir vor fünf Jahren mit der Aquarius ins Mittelmeer gefahren sind: Es ist fast niemand vor Ort, um die Menschen vor dem Ertrinken zu retten. Es gibt nach wie vor keinen Schutz für Schutzbedürftige auf den Fluchtrouten und keine sicheren alternativen Wege.

Das ist erschütternd, traurig und empörend und Europas unwürdig.


Du hast 2015 SOS MEDITERRANEE in Berlin gegründet und hattest deinen Job als Handelsschiffskapitän gekündigt. Was waren deine Beweggründe – und wie steht die zivile Seenotrettung heute, fünf Jahre später, da?

Nach dem Abbruch der italienischen Seenotrettungsoperation Mare Nostrum gab es auf einen Schlag, mitten im Winter 2014/2015 keine Rettungsschiffe mehr im Mittelmeer. Und es war klar, dass niemand sonst die Rettungen übernehmen würde. Auch die Handelsschifffahrt war zum Aufbau einer Rettungsmission im Mittelmeer nicht bereit. Niemand kam den Schiffbrüchigen zu Hilfe. Ich musste es allein versuchen und habe dann zum Glück in Deutschland, Frankreich und Italien Menschen gefunden, die mit mir zusammen ein großes Rettungsschiff, die Aquarius, auf das Mittelmeer gebracht haben. Mit diesem Rettungsschiff und dem Nachfolgeschiff von SOS MEDITERRANEE, der Ocean Viking, haben wir seit Anfang 2016 fast 32.000 Menschen vor dem Ertrinken gerettet und in Sicherheit gebracht. Die zivile Seenotrettung im zentralen Mittelmeer ist heute von allen Beteiligten zwar formal anerkannt, aber es gibt viel zu wenig konkrete Unterstützung. Die europäischen Regierungen nehmen ihre Verantwortung nicht wahr und blockieren die Seenotrettung. Das Mittelmeer ist nach wie vor die tödlichste Grenze der Welt.

Hättest du dir bei der Gründung von SOS MEDITERRANEE vorstellen können, dass staatliche Behörden in Europa Rettungen gezielt verhindern könnten?

Ich wusste, dass es nicht einfach sein würde. Meine Hoffnung war, dass die europäischen Regierungen durch unsere Einsätze wachgerüttelt würden. Leider ist das nicht eingetroffen. Während wir 2016 und 2017 noch Unterstützung und Anerkennung erfahren haben, werden seit 2018 Rettungsschiffe im Mittelmeer von den italienischen und maltesischen Behörden systematisch behindert. Wir haben geschlossene Häfen, Beschlagnahmung von Schiffen und Kriminalisierung erlebt. Unser Schiff, die Aquarius, mussten wir damals aufgeben, um der Beschlagnahme zu entgehen. Von den europäischen Regierungen gibt es bis heute keine verlässliche Unterstützung. Rettungen werden sogar gezielt verhindert, was ich besonders empörend finde.

Flüchtende Menschen sind heute noch genauso schutzlos wie vor 80 oder 100 Jahren.

Die meisten zivilen Rettungsschiffe sind in diesem Jahr festgesetzt gewesen, Europa verweigert sich auch 2020 seiner Pflicht zu staatlicher Seenotrettung. Ich habe zu Beginn unserer Mission mit einem Einsatz von einigen Monaten gerechnet. Mit den Widerständen in Teilen der europäischen Bevölkerung hatte ich nicht gerechnet. Das ist auch eine Führungsfrage.

Die europäischen Regierungen haben sich der Polarisierung der Gesellschaft bei den Themen Migration und Seenotrettung nicht klar und entschlossen genug entgegengestellt.

SOS MEDITERRANEE betreibt ein großes und für Rettungen zertifiziertes Schiff. Dennoch war es im vergangenen Jahr fünf Monate lang festgesetzt und konnte nicht in Rettungseinsätze rausfahren, während fast täglich Menschen ertranken. Wie siehst du das als Mensch, und als Kapitän?

Es erschüttert mich als Mensch zutiefst, dass Schutzsuchende im Mittelmeer wissentlich dem Ertrinken überlassen werden. Als europäischer Bürger macht es mir klar, dass an den Grenzen von Europa das Recht auf Leben nicht gleichermaßen für alle gilt. Und als Kapitän ist es für mich inakzeptabel, dass nicht gerettet wird. Menschen in Seenot müssen jederzeit und überall gerettet werden, ohne Ansehen der Person. Was im Mittelmeer passiert, vor unser aller Augen, ist tausendfach unterlassene Hilfeleistung.

Die Ocean Viking ist nur eines der zahlreichen Schiffe, die festgesetzt waren, damit sie nicht rausfahren. Es sind noch immer fünf von ihnen durch Behörden blockiert. Wie können zivile Seenotretter*innen dieser Strategie der Küstenstaaten wie Italien begegnen, um Menschenleben zu retten?

Ich glaube wir haben nur ein Mittel, und das ist die Öffentlichkeit. Wir müssen die Lage beschreiben, wie sie ist, und dafür sorgen, dass wir gehört werden. Wir müssen unsere Regierungen wachrütteln und ihnen klar machen, dass das Recht auf Leben für alle gilt und gelten muss. Wir müssen sie daran erinnern, dass sie für uns alle in der Verantwortung dafür stehen, dass im Mittelmeer sichere Verhältnisse herrschen und bei Seenotfällen selbstverständlich gerettet wird. Die Öffentlichkeit erreichen wir auf verschiedenen Wegen: durch die Aktivitäten unserer Freiwilligengruppen, durch Veranstaltungen, den Schulterschluss mit anderen Organisationen und Bewegungen wie z.B. die Seebrücke, und vielem mehr. Wir müssen aber auch den direkten Kontakt zu Politikern herstellen, mit ihnen persönlich sprechen. Auch die Lobbyarbeit ist wichtig, wir müssen diejenigen, die Richtlinien verfassen und Entscheidungen treffen, von unserer Arbeit überzeugen, damit sie sich für eine verlässliche Seenotrettung einsetzen. Letztlich ist der politische Wille entscheidend dafür, dass die aktuelle, unhaltbare Lage überwunden wird.


Du bist nicht nur Kapitän, sondern auch Historiker. Was müsste aus deiner Sicht die EU tun, um die humanitäre Katastrophe auf dem Mittelmeer zu beenden?

Jede Fluchtbewegung der Geschichte hat einen Anfang und ein Ende. Vor zweihundert Jahren sind Europäer zu Tausenden mit Segelschiffen über das Meer gefahren, um in Amerika und Australien ein besseres Leben zu finden. Manche dieser Schiffe sind schon in der Nordsee in Seenot geraten und haben Schiffbruch erlitten. Hunderte Menschen sind damals vor der deutschen Nordseeküste ertrunken. Um diese Menschen zu retten, sind an den Küsten Seenotrettungsorganisationen gegründet worden. Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger ist damals gegründet worden. Einzelne aus allen Kreisen der Gesellschaft haben sich beteiligt. Sogar der preußische Kronprinz hat sich als Privatperson engagiert. Heute müsste die EU die zivile Seenotrettung aktiv unterstützen und dafür sorgen, dass Italien als Küstenstaat nicht mit der Aufgabe allein gelassen wird. Und sie müsste dafür sorgen, dass sichere Routen für schutzsuchende Menschen geschaffen werden.

Migration ist ein Menschenrecht für alle Menschen - nicht nur für Europäer.


Wie könnte eine funktionierende Seenotrettung aussehen, und was haben wir aus den Erfahrungen der letzten Jahre gelernt?

Auf dem Mittelmeer brauchen wir eine gesicherte und anerkannte Seenotrettung. Sechs Jahre nach dem Ende der italienischen Rettungsoperation Mare Nostrum ist dies mehr als überfällig. Staatliche und zivile Seenotrettung sollten dabei Hand in Hand arbeiten. Die zivilen Seenotretter müssten von den Küstenwachen unterstützt werden, vor allem mit der verlässlichen und zügigen Zuweisung eines sicheren Hafens, um die Menschen schnell an Land in Sicherheit zu bringen. So war es in den ersten zwei Jahren unseres Einsatzes mit der Aquarius, also 2016 und 2017. Aber dann ist diese Unterstützung weggebrochen – obwohl es zu einer Rettung gehört, Schiffbrüchige schnellstmöglich an einen sicheren Ort zu bringen. Das ist Teil der im internationalen Seerecht festgelegten Pflicht zur Seenotrettung und gilt für jeden, der auf See unterwegs ist. Leider wurde Italien bei der Aufnahme der Geretteten von den europäischen Ländern allein gelassen. Das Land fing dann unter dem damaligen Innenminister Salvini an, zivile Seenotretter zu drangsalieren und zu kriminalisieren. Schiffe wurden beschlagnahmt, Retter verklagt. Diese Kriminalisierung von Seenotrettern ging auch 2020 weiter, sie muss sofort beendet werden.

Wie du selbst wollen viele Bürgerinnen und Bürger nicht hinnehmen, dass Menschen ertrinken müssen, damit Grenzen geschützt werden. Was kann die Zivilgesellschaft gegen das Sterben auf dem Mittelmeer konkret tun?

Die Zivilgesellschaft leistet schon unglaublich viel, um auf das Sterben im Mittelmeer immer wieder hinzuweisen und um zivile Seenotrettungsorganisationen zu unterstützen. Darin dürfen wir nicht nachlassen. Wir müssen auch denen entgegentreten, die Europa um jeden Preis abschotten wollen. Es kann nicht sein, dass schutzbedürftige Menschen in den libyschen Folterlagern eingesperrt bleiben und Europa nichts dagegen unternimmt.

Als Bürgerinnen und Bürger der EU müssen wir unseren Politikern deutlich zeigen, dass wir nicht wegschauen, wenn Menschen an unseren Grenzen sterben, obwohl wir das verhindern können.


Was wünschst du dir für die schutzsuchenden Menschen in Libyen und auf dem Mittelmeer für das nächste Jahr?

Ich wünsche mir jeden Tag, dass das Sterben auf dem Mittelmeer und das Leid von Menschen auf der Flucht beendet wird. Dass die libysche Küstenwache Menschen auf der Flucht über das Mittelmeer abfängt und in die grauenhaften Internierungslager in Libyen zurückbringt, muss sofort beendet werden. Die Europäische Union darf diese Küstenwache nicht unterstützen. Solange Libyen kein sicherer Ort für Schutzbedürftige ist, muss Europa selbst die Rettung vor der Küste übernehmen. In den libyschen Lagern werden die Menschen gequält, gefoltert und vergewaltigt. Europa macht sich mitschuldig, wenn es wegschaut und die libysche Küstenwache unterstützt.

 

Vielen Dank an SOS Mediterranee und Klaus Vogel für das spannende Interview. Mehr Informationen zu ihrer Arbeit gibt es hier.

Die UNO-Flüchtlingshilfe unterstützte SOS Mediterranee jüngst mit 26.400€, um die lebensrettende Arbeit auf dem Mittelmeer durchzuführen.

 

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