Vorurteile gegen Flüchtlinge auf dem Prüfstand
Seit über drei Jahrzehnten arbeite ich mit Flüchtlingen. Aber in diesen drei Jahrzehnten habe ich noch nie einen solchen Zynismus gesehen, ein solches Gift in der Sprache der Politik, in den Medien, in den sozialen Medien, sogar in alltäglichen Gesprächen, wie heute.
Filippo Grandi, UN-Hochkommissar für Flüchtlinge
Vorurteile halten sich hartnäckig, vergiften das politische Klima und verhindern eine sachliche Diskussion über Flucht und Vertreibung. Für Flüchtlinge erschweren sie so das Ankommen und für Menschen sowie Organisationen, die Unterstützung leisten möchten, stellen sie zusätzliche Hindernisse dar. Doch halten diese Vorurteile einem Faktencheck wirklich stand?
Vorurteile: Wie sie entstehen & was wir dagegen tun können
Die UNO-Flüchtlingshilfe hat einige der verbreitetsten Vorurteile untersucht und auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft. Lesen Sie hier den Faktencheck!
„Europa nimmt die meisten Flüchtlinge auf.“
Die Aussage ist falsch. Während Europa oft als Hauptziel wahrgenommen wird, zeigt die Realität eine andere Perspektive: 75 Prozent der Geflüchteten finden Schutz in ärmeren Ländern, die selbst mit Armut und Konflikten kämpfen. Die Flucht nach Europa ist für viele zu riskant oder unmöglich, was den Irrglauben widerlegt, dass Europa die Hauptlast trägt.
Bis Ende 2023 waren weltweit rund 120 Millionen Menschen auf der Flucht. Die allermeisten Schutzsuchenden bleiben in ihren Heimatländern oder werden von Ländern in Afrika oder Asien aufgenommen.
Niemand flieht ohne Grund und den meisten Menschen fällt es nicht leicht, ihre Heimat zu verlassen. Der Weg nach Europa ist außerdem beschwerlich: Über gefährliche Routen führt er Menschen in die Hände von Schlepper*innen und Menschenhändler*innen. Nicht jede*r kann und möchte diesen Weg antreten. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider: Von 120 Millionen Schutzsuchenden sind mehr als 68 Millionen als Binnenvertriebene innerhalb ihrer Heimatländer auf der Flucht. Insgesamt 69 Prozent der Flüchtlinge fliehen ins unmittelbare Nachbarland.
Der Irrglaube, Europa nähme die meisten Flüchtlinge auf, beruht auf einer verengten, auf Europa zentrierten Sichtweise: 21 Prozent aller Flüchtlinge lebt in den ärmsten Ländern der Welt, die oft zusätzlich mit politischen Spannungen oder gar bewaffneten Konflikten zu kämpfen haben. Insgesamt werden 75 Prozent aller Flüchtlinge von diesen und anderen sogenannten Entwicklungsländern aufgenommen. Keines davon ist Mitglied der EU.
Quelle:
UNHCR (2024): Global Trends report 2023.
„Wir in Deutschland können doch nicht alle aufnehmen!“
Das tun wir auch nicht. Die meisten Flüchtlinge leben nicht in reicheren Ländern wie Deutschland, sondern in Staaten, die selbst unter großen wirtschaftlichen und politischen Herausforderungen stehen.
Die Länder, die die meisten Flüchtlinge aufgenommen haben, sind der Iran (3,8 Mio.) und die Türkei (3,3 Mio.), gefolgt von Kolumbien (2,9 Mio.) und Deutschland (2,6 Mio.). Durch den Krieg in der Ukraine haben bis Anfang 2025 zudem rund 1,2 Millionen Menschen aus dem Krisengebiet vorübergehenden Schutz in Deutschland beantragt. Das erhöht zwar die Gesamtzahl der Flüchtlinge im Land – betrachtet man diese allerdings im Verhältnis zur Einwohner*innenzahl und der wirtschaftlichen und politischen Lage anderer Aufnahmeländer, ergibt sich ein komplexeres Bild.
Das wird zum Beispiel im Libanon deutlich. Das kleine Land mit seinen sechs Millionen Einwohner*innen hatte Ende 2023 über 1,5 Millionen Schutzsuchende aufgenommen. Im Libanon ist heute jede*r sechste Einwohner*in ein Flüchtling. Um ein solches Verhältnis zu erreichen, müsste Deutschland etwa 14 Millionen Menschen aufnehmen.
21 Prozent aller Flüchtlinge haben in Ländern Schutz gefunden, die durch die Aufnahme Schutzsuchender viel stärker herausgefordert werden als reiche Länder wie Deutschland.
Quellen:
UNHCR (2024): Global Trends report 2023.
UNHCR (2025): Ukraine Data Portal.
UNHCR (2024): Lebanon - Needs at a glance 2024.
„Flüchtlinge nehmen den Deutschen die Arbeitsplätze weg."
Das ist falsch. Studien zeigen, dass Flüchtlinge nicht in Konkurrenz zu deutschen Arbeitnehmer*innen stehen, sondern den Fachkräftemangel mildern und offene Stellen besetzen.
Durch die sogenannte Vorrangprüfung werden deutsche und europäische Arbeitnehmer*innen bei der Stellenvergabe bevorzugt. Ausländische Arbeitnehmer*innen treten somit nicht in direkten Wettbewerb mit einheimischen Arbeitskräften. Darüber hinaus erfolgt die Integration von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt nur schrittweise, da Sprachbarrieren und zunächst überwunden werden müssen oder Qualifikationen zuerst nicht anerkannt werden. Dies macht es unwahrscheinlich, dass Flüchtlinge kurzfristig eine große Zahl an Arbeitsplätzen besetzen.
Auch Studien zeigen, dass Flüchtlinge keine Konkurrenz für deutsche Arbeitnehmer*innen darstellen, sondern vielmehr dazu beitragen, den Fachkräftemangel in Deutschland zu mildern. Der deutsche Arbeitsmarkt leidet unter einem erheblichen Fachkräftemangel, was jährlich wirtschaftliche Verluste in Milliardenhöhe verursacht. Flüchtlinge können diese Lücken füllen, insbesondere in Branchen wie Pflege, Handwerk und IT, und so zur wirtschaftlichen Stabilität beitragen. Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sind über die Hälfte der Flüchtlinge, die seit sechs Jahren in Deutschland leben, erwerbstätig. Die Mehrheit arbeitet in Vollzeit, häufig in qualifizierten Berufen. Allerdings sind viele unterhalb ihres Ausbildungsniveaus beschäftigt, was darauf hindeutet, dass sie ihre Fähigkeiten gar nicht ausschöpfen können.
Quellen:
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2023): IAB-Kurzbericht.
Die Bundesregierung (2024): Fakten zur Migrationspolitik der Bundesregierung.
Institut der deutschen Wirtschaft (2024): Fachkräftemangel: Wirtschaft verliert 49 Milliarden Euro.
Arbeitsagentur (2024): Merkblatt zu Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland.
„Flüchtlinge nehmen den Deutschen den Wohnraum weg."
Diese Aussage ist irreführend. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum in Deutschland resultiert hauptsächlich aus jahrelangem Rückgang des sozialen Wohnungsbaus und steigenden Baukosten. Zwar erhöht Zuwanderung die Nachfrage nach Wohnungen, doch Flüchtlinge sind nicht die Hauptursache für die Wohnungsnot.
Der Wohnraummangel in Deutschland ist ein vielschichtiges Problem, das nicht allein auf die Aufnahme von Flüchtlingen zurückzuführen ist. Seit den 1990er-Jahren ist ein kontinuierlicher Rückgang des Bestands an Sozialwohnungen zu verzeichnen. 2022 gab es in Deutschland nur noch etwa 1,09 Millionen Sozialwohnungen, was einem Rückgang von etwa 41.000 Wohnungen im Vergleich zu 2020 entspricht.
Die Zuwanderung, einschließlich der Aufnahme von Flüchtlingen, erhöht zwar die Nachfrage nach Wohnraum, ist jedoch nicht der Hauptgrund für die bestehende Wohnungsnot. Vielmehr verstärkt sie ein bereits bestehendes Problem, das durch unzureichende Investitionen in den sozialen Wohnungsbau und steigende Baukosten verursacht wurde.
Zudem ist zu berücksichtigen, dass viele Flüchtlinge zunächst in Gemeinschaftsunterkünften oder speziellen Einrichtungen untergebracht werden und somit nicht unmittelbar auf dem allgemeinen Wohnungsmarkt konkurrieren. Nach acht Jahren lebt jeder vierte Flüchtling noch immer in einer Gemeinschaftsunterkunft, da sie keine eigene Wohnung gefunden haben, wie eine Umfrage des Mediendienst Integration zeigt.
Quellen:
Tagesschau (2023): “Zahl der Sozialwohnungen sinkt weiter”.
Deutschlandfunk (2023): “Warum viel zu wenig Sozialwohnungen gebaut werden”.
Mediendienst Integration (2023): Unterbringung und Versorgung.
„Flüchtlinge wollen sich nicht integrieren."
Diese Aussage ist nicht zutreffend. Zahlreiche Studien belegen die hohe Bereitschaft von Flüchtlingen, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren. Sie zeigen großes Interesse an Sprachkursen, Bildung und Arbeit, um aktiv am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen.
Eine Untersuchung des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) zeigt, dass viele Flüchtlinge sehr motiviert sind, sich sprachlich und beruflich zu integrieren. Etwa 60 Prozent der seit 2015 in Deutschland angekommenen Flüchtlinge haben trotz großer Schwierigkeiten Sprachkurse besucht, um ihre Deutschkenntnisse zu verbessern, was eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Integration ist. Dass nicht mehr Geflüchtete einen Sprachkurs abschließen lässt sich laut Linguist*innen auch mit den hohen Anforderungen der Prüfungen erklären. So würden diese selbst für viele deutsche Muttersprachler*innen nicht ohne Schwierigkeiten machbar sein. Der dadurch hohe Lernaufwand ist, gerade für alleinerziehende Elternteile oder Geflüchtete mit anderen zusätzlichen Verpflichtungen in der Familie, noch schwieriger zu bewältigen.
Auf dem Arbeitsmarkt streben sie danach, finanziell unabhängig zu werden und sich gesellschaftlich einzubringen. Zahlreiche Flüchtlinge suchen aktiv nach Arbeitsmöglichkeiten und sind bereit, in verschiedenen Branchen tätig zu sein.
Die Integration ist ein wechselseitiger Prozess, der sowohl das Engagement der Flüchtlinge als auch die Unterstützung durch die Aufnahmegesellschaft erfordert. Flüchtlinge leben oft in sehr komplexen und belastenden Lebenssituationen, daher kommt es, dass die Integration nicht immer reibungslos verläuft. Hindernisse wie Sprachbarrieren, bürokratische Hürden und kulturelle Unterschiede erschweren den Prozess, was jedoch keinesfalls bedeutet, dass es an einem Willen zur Integration mangelt.
Quellen:
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2024): IAB-Kurzbericht.
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2023): IAB-Kurzbericht.
ZDF (2024): “Warum scheitern viele am Deutsch-Kurs?”.
„Flüchtlinge kommen nur, um vom deutschen Sozialstaat zu profitieren und kriegen mehr als Deutsche!“
Das Gegenteil ist der Fall: Asylsuchende erhalten weniger staatliche Unterstützung als deutsche Bürger*innen. Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz sind geringer als das Bürgergeld und decken nur Grundbedürfnisse.
Der Regelbedarf bei Bürgergeld für Alleinstehende beträgt momentan 563 Euro. Asylsuchende haben solange über den Asylantrag nicht entschieden ist, keinen Anspruch auf das Bürgergeld. Ihnen stehen geringere Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz zu. Demnach erhalten Alleinstehende Asylsuchende höchstens 441 Euro. Anerkannte Flüchtlinge haben bei Bedürftigkeit die gleichen Ansprüche auf Sozialleistungen wie deutsche Staatsangehörige – nicht mehr und nicht weniger.
Die Grundbedürfnisse von Asylbewerber*innen in Erstaufnahmeeinrichtungen und Gemeinschaftsunterkünften werden durch Sachleistungen gedeckt. Dazu zählen Unterkunft, Essen, Heizung, Gesundheits- und Körperpflege und Haushaltswaren. Wenn sie nicht mit Sachleistungen versorgt werden können, erhalten sie zusätzlich ein sogenanntes Taschengeld von 196 Euro im Monat. Bei einer Unterbringung außerhalb von Aufnahmeeinrichtungen können Geldleistungen zur Deckung der Grundbedürfnisse ausgezahlt werden. Der Regelsatz für alleinstehende Leistungsberechtigte liegt hier bei 245 Euro.
Zusammengerechnet liegen die Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz also unter dem Regelbedarf bei Bürgergeld. Hinzu kommen ein eingeschränkter Anspruch auf medizinische Versorgung und zahlreiche vom Gesetz vorgesehene Kürzungsmöglichkeiten. Im Jahr 2023 hat ein Forschungsprojekt der Humboldt-Universität zu Berlin Migrationsdaten aus 160 Ländern über verschiedene Zeiträume analysiert. Die Studie ergab, dass höhere Sozialleistungen nicht zwangsläufig zu einer verstärkten Migration führen. Vielmehr spielen die Größe und Wirtschaftskraft eines Landes sowie seine geografische Lage eine entscheidende Rolle. Faktoren wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, die vorherrschende Sprache und höhere Gesundheitsausgaben tragen ebenfalls dazu bei, ein Land attraktiver für Migrant*innen zu machen.
Auch hier zeigt der Blick auf die Statistik zu den Ländern, aus denen die meisten Flüchtlinge kommen: Die Menschen fliehen vor Gewalt und Terror, sie suchen nach Frieden und Sicherheit. Dazu gehören ein Dach über dem Kopf, etwas zu essen und die Möglichkeit, für das eigene körperliche und psychische Wohlbefinden zu sorgen. Genau das erlaubt die Grundsicherung nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Laut einer Studie des IAB von 2024 sind 68 Prozent der Geflüchteten mit einer Aufenthaltsdauer von acht Jahren erwerbstätig. Davon arbeiten drei Viertel in Vollzeit und 70 Prozent üben eine qualifizierte Berufstätigkeit aus und benötigte damit keine staatliche Grundsicherung mehr.
Ängste um das eigene Einkommen und die persönliche Zukunft sind zutiefst menschlich und daher verständlich. Diese Ängste jedoch auf den Schultern notleidender Schutzsuchender abzuladen, halten wir für den falschen Weg.
Quellen:
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2025): Leistungen und Bedarfe im Bürgergeld.
Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2025): Neue Leistungssätze nach dem Asylbewerberleistungsgesetz.
Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (2023): Migration und Sozialstaat: Wanderungsmodelle, fiskalische Effekte, Akzeptanz und institutionelle Anpassungsfähigkeit.
Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (2024): Arbeitsmarktintegration von Geflüchteten.
„Flüchtlinge kosten zu viel Geld!"
Menschen zu helfen, die vor bewaffneten Konflikten und Verfolgung fliehen, ist eine humanitäre und völkerrechtliche Verpflichtung, keine Frage des Profits. Als größte Volkswirtschaft Europas trägt Deutschland damit Verantwortung für eine der drängendsten Herausforderungen unserer Zeit.
Der Flüchtlingsschutz ist unter anderem in der Genfer Flüchtlingskonvention und im Grundrecht auf Asyl festgelegt. Außerdem gibt es in Deutschland das Asylbewerberleistungsgesetz, das festlegt, welche Unterstützungsleistungen hilfsbedürftige Schutzsuchende erhalten können. Es geht beim Flüchtlingsschutz also um die Umsetzung rechtlich bindender Verpflichtungen – nicht um eine Kosten-Nutzen-Frage.
2023 verwendete die deutsche Bundesregierung rund 26 Milliarden Euro für sogenannte flüchtlingsbezogene Ausgaben. Darin enthalten waren über 10 Milliarden Euro zur Fluchtursachenbekämpfung in den Herkunftsländern und Entlastungen für die Länder und Kommunen in Höhe von 2,8 Milliarden. Damit betrugen die flüchtlingsbezogenen Ausgaben knapp über fünf Prozent des verabschiedeten Bundeshaushalts 2023.
Deutschland ist eines der wohlhabendsten Länder der Welt und gemessen am Bruttoinlandsprodukt 2023 die größte Volkswirtschaft Europas und nimmt hier nicht zuletzt seine internationale Verantwortung wahr.
Quellen:
Die Genfer Flüchtlingskonvention.
Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland: Art. 16a.
Bundesfinanzministerium (2024): Vorläufiger Abschluss des Bundeshaushalts 2023.
Statista (2024): Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den Mitgliedstaaten der EU im Jahr 2023.
„Flüchtlinge sind kriminell.“
Straftaten hängen oft mit Alter, Geschlecht, sozialen Bedingungen und Perspektivlosigkeit zusammen, nicht mit Herkunft. Verzerrungen in der Wahrnehmung und Kriminalstatistik verstärken Vorurteile, während bessere Integration und Chancengleichheit Kriminalität verringern können.
Im Jahr 2024 wurden in Deutschland 2.184.834 Tatverdächtige erfasst, darunter 383.844 Zuwander*innen. Das sind 17,6 Prozent aller Tatverdächtigen. Zieht man jedoch die Tatverdächtigen im Bereich ausländerrechtliche Verstöße (wie etwa illegale Einreise oder Aufenthalt) ab, liegt der Anteil an Zuwander*innen an der Allgemeinkriminalität bei nur noch 8,8 Prozent. Diese Zahlen sind immer in ihrem gesellschaftlichen Kontext zu sehen, denn ob jemand straffällig wird, hängt von einer Vielzahl an Faktoren ab.
Werden im Zusammenhang mit Flüchtlingen und Kriminalität Zahlen genannt, so stammen sie in der Regel aus der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS). Die PKS erhebt den Anteil sogenannter Zuwander*innen an der Gesamtzahl der Tatverdächtigen bei Straftaten. In die Kategorie „Zuwander*innen“ fallen jedoch nicht nur anerkannte Flüchtlinge, sondern alle Schutzberechtigten, außerdem Geduldete und sich unerlaubt in Deutschland aufhaltende Menschen. Da nicht nach Aufenthaltsstatus differenziert wird, gibt es so gut wie keine Angaben zur Anzahl tatverdächtiger Flüchtlinge. Eine Ausnahme ist das Jahr 2017, in dem der Anteil anerkannter Flüchtlinge und sonstiger Schutzberechtigter gesondert erhoben wurde. In diesem Jahr stellten sie 0,5 Prozent aller Tatverdächtigen dar und waren damit im Vergleich zu ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung unterrepräsentiert.
Straftaten, die von Zuwander*innen verübt werden, sind durch ein Zusammenspiel mehrerer Faktoren bedingt. Die Forschung zeigt, dass insbesondere Armut und mangelnde Bildungsteilhabe kriminalitätsfördernd sind. Die Herkunft spielt keine Rolle, wenn diese Faktoren berücksichtigt werden. Zuwander*innen sind jedoch überproportional von Armut und mangelnder Bildung betroffen. Es bedarf also besserer Integrationsmöglichkeiten und der Bekämpfung von Benachteiligungen von Kindern mit Migrationshintergrund in Schulen.
Zum einen spielen zudem vor allem konkrete Lebenslagen und die Bleibeperspektive eine wichtige Rolle. Geduldete und sich unerlaubt in Deutschland aufhaltende Zugewanderte werden statistisch gesehen häufiger zu Straftäter*innen, weil sie unter der Unsicherheit und Perspektivlosigkeit leiden, die ihre Situation mit sich bringt. Auch schwere soziale Lebensbedingungen, wie sie etwa durch die Unterbringung unterschiedlicher ethnischer Gruppen in Massenunterkünften entstehen, können gewalttätige und andere strafbare Verhaltensweisen begünstigen. Eine Aufenthaltsberechtigung und die damit einhergehende Arbeitserlaubnis hingegen bedeuten die Chance auf eine planbare, selbstbestimmte Zukunft, die niemand leichtfertig aufs Spiel setzt.
Zum anderen ist die Gruppe der Zuwanderer*innen ganz anders zusammengesetzt als die deutsche Gesamtbevölkerung und weist einen wesentlich höheren Anteil junger Männer auf: 71,5 Prozent derjenigen, die 2023 ihren Asylerstantrag gestellt haben, waren männlich, 72 Prozent von ihnen unter 30 Jahren alt. Männer zwischen 14 und 30 Jahren gelten als besonders risikobereit und sind bei Gewaltdelikten überrepräsentiert, und zwar unabhängig von ihrer Herkunft.
Zuletzt stellt das Anzeigeverhalten einen nicht zu unterschätzenden Verzerrungsfaktor dar. Es ist davon auszugehen, dass Straftaten mindestens doppelt so häufig zur Anzeige gebracht werden, wenn sie von Menschen begangen werden, die als fremd wahrgenommen werden. In der Kriminalstatistik erhalten so auch Flüchtlinge eine viel höhere Sichtbarkeit, die ihrerseits dazu missbraucht werden kann, ausländerfeindliche Ressentiments und Ängste zu schüren.
Quellen:
ifo Institut (2025): Steigert Migration die Kriminalität? Ein datenbasierter Blick
Bundeskriminalamt (2025): Polizeiliche Kriminalstatistik 2024.
Bundeskriminalamt (2024): Kriminalität im Kontext von Zuwanderung. Bundeslagebild 2023.
Bundeskriminalamt (2018): Bundeslagebild Kriminalität im Kontext von Zuwanderung 2017.
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) (2024): Das Bundesamt in Zahlen 2023.
Pfeiffer, Christian; Baier, Dirk; Kliem, Sören (2018): Zur Entwicklung der Gewalt in Deutschland. Schwerpunkte: Jugendliche und Flüchtlinge als Täter und Opfer.
Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) (2020): Migration und Kriminalität – Erfahrungen und neuere Entwicklungen.
Destatis (2024): Armutsgefährdungsquote in Deutschland nach Migrationshintergrund und Staatsangehörigkeit im Jahr 2023.
Mediendienst Integration (2024): Die wichtigsten Fragen zur Ausländerkriminalität.
Die Macht der Wörter
Wie wir über Flüchtlinge sprechen, was wir über sie lesen oder hören, beeinflusst unmittelbar, wie wir von ihnen denken. Sprache prägt unsere politische Realität und beeinflusst unser Handeln. Sprache ist mächtig. Dies gilt besonders für den Flüchtlingsdiskurs. Hier werden immer wieder Begriffe verwendet, die häufig mehr über den aussagen, der sie verwendet, als über die Menschen, die sie bezeichnen.
Spricht man von „Flüchtlingen“ oder „Geflüchteten“?
Um auszudrücken, dass Flüchtlinge weit mehr sind als Menschen mit einer Fluchterfahrung, bevorzugen manche die Formulierung „Geflüchtete“. Damit möchten sie auch die häufig negativ konnotierte Wortendung „-ling“, wie etwa in „Feigling“, umgehen.
Die UNO-Flüchtlingshilfe trägt den Flüchtlingsbegriff in ihrem Namen. Und das aus gutem Grund, denn er hat eine juristisch wichtige Bedeutung: Er bezeichnet Personen, die verbürgte und unabdingbare Rechte haben – insbesondere das Recht auf Schutz, wenn sie vor Krieg, Gewalt und Verfolgung aus ihrer Heimat fliehen müssen. Neben der rechtlichen hat die Bezeichnung auch eine tragende historische Bedeutung, markiert die Verständigung von 149 Staaten auf die Genfer Flüchtlingskonvention doch eine der größten Leistungen internationaler Kooperation. Nicht zuletzt deshalb hat sich der Flüchtlingsbegriff bei Engagierten in der Flüchtlingsarbeit etabliert – auch in klarer Abgrenzung zur abwertenden Bezeichnung „Asylant“.
Die juristische Definition des Flüchtlingsbegriffs deckt allerdings die Lebenswirklichkeit vieler Menschen auf der Flucht nicht im vollem Maße ab: Das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und die UNO-Flüchtlingshilfe als dessen deutscher Partner setzen sich ebenso für den Schutz von Binnenvertrieben und Staatenlosen ein. Auch deshalb verwenden wir neben dem Begriff „Flüchtlinge“ Alternativen wie „Geflüchtete“, „Schutzsuchende“ oder „Menschen auf der Flucht“ synonym.
Warum ist „Asylant“ ein Unwort?
Das bloße Nomen „Asylant“ bezeichnet nach der Definitiondes Dudens eine Person, die Asyl sucht. Erst in den 1980er Jahren erfuhr der Begriff eine negative Konnotation, als durch den Militärputsch in der Türkei die Zahl der Asylsuchenden in Deutschland stark anstieg.
Sprachwissenschaftlich betrachtet, entsteht die negative Wahrnehmung durch die Endung –ant, wie sie sich bei anderen negativ besetzten Begriffen wie Denunziant oder Querulant wiederfindet. Das Wort „Asylant“ stigmatisiert und steht für eine Person, die aus zweifelhaften Gründen Asyl sucht und das Grundgesetz ausnutzen will.
Was ist am Begriff „Flüchtlingswelle“ problematisch?
In Bezug zu Flüchtlingen fungiert die „Welle“ als Gewässer-Metapher. Unter Berücksichtigung der restlichen Satzkonstruktion bzw. Satzbestandteile, in der der Begriff Verwendung findet, wird ein Bild von Flüchtlingen als Naturgewalt gezeichnet. In Zusammenhang mit Verben wie „anschwemmen“, „anspülen“, „überrollen“, die ebenfalls Bestandteile einer Wasser-Metaphorik sind, kann sprachlich ein Bedrohungsszenario konstruiert werden.
Wie wird der Begriff „Flüchtlingskrise“ verwendet?
Der Begriff „Flüchtling“ wird nach der Genfer Flüchtlingskonvention 1951 definiert. Zusammenfassend handelt es sich um eine Person, die sich aus der begründeten "Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung" außerhalb des Landes befindet.
Der zweite Teil des Wortes, die „Krise“, beschreibt eine schwierige bzw. kritische Situation und/oder Zeitraum, die/der mit einer Gefährdung einhergeht.
Setzt man diese beiden Nomina nun zu „Flüchtlingskrise“ zusammen, so resultiert daraus eine sprachlich konstruierte Gefährdung in Verbindung zu Menschen auf der Flucht. Die Kausalität bzw. die Gleichsetzung damit, dass Flüchtlinge eine (unbestimmte) Gefährdung für jemanden bzw. eine spezifische Gruppe von Menschen darstellen, entsteht jedoch erst durch den Kontext im politischen, gesellschaftlichen und medialen Diskurs. Ohne ein solches mediales Framing könnten sich auch die Flüchtlinge in einer Krise befinden; folglich in einer schwierigen Situation, in der sie selbst einer Gefährdung ausgesetzt sind.
Der Begriff gewann 2015 in den deutschen Medien und im Berliner Politikbetrieb im Rahmen der erhöhten Zuwanderung nach Europa bzw. in die EU an Popularität.
Was suggeriert der Begriff "Obergrenze für Flüchtlinge“?
Im medialen Diskurs zu Flüchtlingen und in der politischen Debatte um ihre Verteilung in Deutschland, forderten manche Politiker*innen eine sogenannte „Obergrenze“ hinsichtlich der Anzahl der Flüchtlinge, denen man die Aufnahme gewährt. Von politischen Gruppen oder Parteien kann dieser Betriff instrumentalisiert werden, um Ängste oder Vorurteile gegenüber Flüchtlingen zu schüren. Mit der Forderung nach einer Obergrenze kann die Annahme einhergehen, dass ein Staat (Deutschland) ansonsten nicht mehr „Herr der Lage“ sei bzw. ein Zustand der Kontrolllosigkeit eintrete.
Mit dem Begriff der „Obergrenze“ kann der Eindruck erweckt werden, dass Flüchtlinge in Zahlen begrenzt werden könnten, unabhängig von ihrer Notlage, humanitären Bedürfnissen oder unvorhergesehener Entwicklungen. Da die Gewährung des Flüchtlingsstatus jedoch mit völkerrechtlichen Verpflichtungen im Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention, der Europäischen Menschenrechtskonvention sowie unserer Verfassung, Menschen Schutz zu gewähren, die vor Verfolgung fliehen, einhergehen, kann es eine derartige Obergrenze nicht geben.
Gibt es einen Unterschied zwischen „Rückführung“ und „Abschiebung“?
Laut dem Bundesinnenministerium stellt die „Rückführung“ neben der „Rückkehr“ eines der beiden rechtstaatlichen Instrumente dar, um ausreisepflichtige Personen außer Landes zu bringen.
Während die „Rückkehr“ auf die Freiwilligkeit abzielt, wird die „Rückführung“ zwangsweise durchgeführt. Juristisch gesehen, bedeuten „Rückführung“ und „Abschiebung“ dasselbe. Im Vergleich zu „Abschiebung“ klingt „Rückführung“ jedoch wie ein Euphemismus, da jemanden (oder etwas) zurückführen stärker mit „Sicherheit“, „regelgeleitetem Vorgehen“ sowie „Gesetzeskonformität“ assoziiert wird.